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Buch

19

Mai

2022

Buchveröffentlichung "Essa Dama Bate Bué!"

Im April, hat die portugiesisch-angolanische Autorin Yara Nakahanda Monteiro ihrneustes Buch "Essa Dama Bate Bué!" veröffentlicht, das davon handelt,  wie der Kolonialismus bis heute ihr Leben prägt. 

Das Buch ist bereits in Buchhandlungen sowie online verfügbar. 

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Artikel von Ana Soberal

IN DER SCHWEBE LEBEN

In ihrem Debüt­roman zeigt die portugiesisch-angolanische Autorin Yara Nakahanda Monteiro, wie der Kolonialismus bis heute ihr Leben prägt. Eine sehr persönliche Buchbesprechung.

„Gestorben, wieder­aufgebaut, wieder­auferstanden. Ein neues Leben!", ruft der traditionelle Heiler, wenn er die Komba durchführt. So heisst in Angola die Beerdigungs­zeremonie, die den Toten beim Übergang in die andere Welt helfen soll. Mehrere Tage lang weinen die Menschen gemeinsam und tanzen zum Takt der Trommeln. Ohne eine Komba können die Toten diese Welt nicht verlassen. Es gibt keinen Abschluss, keinen Frieden. Ohne eine Komba kann nichts Neues entstehen.

Debütroman die Szene mit der rituellen Beisetzung erreichen, haben sie Vitoria, die in Portugal aufgewachsene Hauptfigur von „Schwer­kraft der Tränen", bereits einige Monate lang in Angola begleitet. Dort, in der ehemaligen portugiesischen Kolonie, wurde Vitoria geboren. Es ist das erste Mal, dass sie wieder in Angola ist, seit sie ein Baby war.

Wenn die Leserinnen von Yara Nakahanda MonteirosWie ihre Hauptfigur ist auch Yara Nakahanda Monteiro in Portugal aufgewachsen, aber in Angola geboren. Und weil Letzteres auch für mich gilt, kann ich diesen Roman über koloniale Gewalt und ihre Nach­wirkungen nicht lesen wie jeden anderen.

Das Buch ist soeben im Haymon-Verlag auf Deutsch erschienen. Portugal hätte eigentlich Schwer­punkt der Leipziger Buchmesse sein sollen, die dann corona­bedingt ausfiel. Für mich hat das Erscheinen dieses Buches deshalb kein bisschen weniger Gewicht.

Wer ist die Heldin von Monteiros Roman? Und was hat ihre Geschichte nicht nur mit meiner, sondern mit unser aller Gegenwart zu tun?

Vitoria ist auf der Suche nach ihrer Mutter Rosa, die sie nie kennengelernt hat. Rosa hat sich in den 1960er-Jahren als junge Frau der antikolonialen Guerilla­bewegung in Angola angeschlossen. Selbst ihre eigenen Eltern hat sie aus politischen Gründen vehement abgelehnt, weil ihre Familie seit Generationen aus Weissen und Schwarzen bestand und mit dem portugiesischen Kolonial­regime in Angola zusammen­arbeitete. Nur einmal kehrte Rosa zu ihrem Elternhaus zurück: um das Baby Vitoria in die Arme seiner Grosseltern zu legen – und dann auch das eigene Kind zu verlassen.

In den frühen 1980er-Jahren dann, Angola war erst kurz zuvor unabhängig geworden und befand sich seit dem ersten Tag in einem Bürgerkrieg, liessen die Grosseltern aus Angst um ihr Leben ihren Besitz und ihr Zuhause zurück und wanderten mit Vitoria nach Portugal aus – just in das Land der einstigen Kolonialherren. Rosa blieb als Soldatin in Angola, ohne je wieder von sich hören zu lassen.

Zwanzig Jahre später, nach Ende eines insgesamt 27 Jahre tobenden Bürgerkriegs, ist Vitoria zurück im Land ihrer Vorfahren und versucht, die Stränge ihrer Biografie zusammenzuführen. Durch die Komba findet Vitoria eine Art Erlösung. Sie trauert nicht nur um die Toten, sondern auch um ihre eigene Kindheit. Seit ihren frühesten Erinnerungen ist sie mit dem ständigen Schmerz des Verlassenseins aufgewachsen, mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören, mit dem Schmerz, sich unvollständig zu fühlen – zu dunkelhäutig in Portugal, zu hellhäutig in Angola.

Alte Gefühle

Vielleicht weil ich diesen Schmerz so gut kenne, löste die Lektüre von Monteiros Roman in mir eine Reihe von Emotionen aus, die ich immer noch verarbeite. Wie Vitoria kehrte auch ich als Erwachsene nach Angola zurück, um den Ort, den ich zuerst „Heimat" genannt hatte, wieder zu besuchen. Und genau wie im Roman beschrieben, wurde ich ständig an meinen Aussenseiterstatus erinnert. Schnell schämte ich mich, den Mund aufzumachen, weil mein Akzent heute so europäisch-portugiesisch klingt.

Dabei war alles ganz anders gewesen, als ich im Alter von 12 Jahren zum ersten Mal von Angola nach Portugal zog: Damals beschimpften mich die Portugiesen mit dem N-Wort, weil mein Akzent so afrikanisch klang. In Angola ist es wiederum bis heute üblich, Menschen mit europäisch-portugiesischem Akzent als colono zu bezeichnen, ein abwertendes Wort, das einen sofort in die Kategorie der Unterdrücker einordnet.

Wie Vitoria hatte ich das Gefühl, dass ich bei meiner Rückkehr nach Angola mit Argwohn, manchmal sogar mit Groll betrachtet wurde. Beunruhigenderweise wurde mir beim Lesen des Romans klar, dass ich diese Ressentiments sogar selbst verinnerlicht habe: Wenn ich mich mit meinem europäischen Akzent Portugiesisch sprechen höre, denke auch ich erst mal: Ich klinge wie eine Kolonialistin.

Wie Vitoria hatte ich das Gefühl, dass ich bei meiner Rückkehr nach Angola mit Argwohn, manchmal sogar mit Groll betrachtet wurde. Beunruhigenderweise wurde mir beim Lesen des Romans klar, dass ich diese Ressentiments sogar selbst verinnerlicht habe: Wenn ich mich mit meinem europäischen Akzent Portugiesisch sprechen höre, denke auch ich erst mal: Ich klinge wie eine Kolonialistin.

Also verabrede ich mich mit ihr zu einem Treffen auf Zoom.

Als wir über ihren Roman sprechen, erzählt mir Yara Nakahanda Monteiro, sie erkenne jetzt in diesem Austausch zum ersten Mal, dass ihr Roman im Ganzen als eine Art Komba betrachtet werden könnte. Vor dem Schreiben habe sie sich gefühlt, als sei sie „stecken geblieben" – zwischen Identitäten, Heimaten, Geschichten und Erinnerungen. Wie Vitoria entstammt Monteiro einer gemischten Familie aus Portugiesinnen und einheimischen Angolanern, deren Geschichte Generationen zurück­reicht. Manche ihrer Verwandten haben Angola verlassen, andere sind im Land geblieben – wie Vitorias Mutter im Roman. Monteiro erzählt mir, sie habe sich bewusst dafür entschieden, die beiden Seiten des Bürgerkriegs in ihrem Roman nicht zu benennen. Sie wollte, dass der Krieg im Mittel­punkt steht, nicht die Politik.

Für mich als eine, die in diesem Konflikt aufgewachsen ist, umgeben von Menschen in Militäruniformen und mit festen politischen Ansichten über den Krieg, ist Monteiros Buch eine Befreiung – weil ich darin über die Auswirkungen des Krieges lese, aber jenseits der engen Kategorien, die ich als Kind gekannt habe.

In Portugal, erzählt Monteiro weiter, habe sie sich wie eine „ewige Ausländerin" gefühlt. Also sei sie kurz nach Ende des Bürgerkriegs in Angola dorthin zurückgegangen. Nur um schmerzlich festzustellen, dass sie nicht automatisch dort hingehörte, nur weil es ihr Geburts­ort war. „Es ist schon eine Herausforderung, in der Schwebe zu leben", sagt sie im Gespräch.

Monteiro zog vorübergehend nach Brasilien – ein Land, das wie kein anderes die Kulturen Angolas und Portugals durch seine eigene brutale Geschichte der Sklaverei miteinander verschmolzen hat. Dort konnte sie endlich ihre migrantische Biografie, ihre schwarze Geschichte verarbeiten und mit der Vergangenheit abschliessen. Und dort, in Brasilien, begann sie auch, „Schwerkraft der Tränen" zu schreiben.

Wie die Autorin und ihre Protagonistin Vitoria wurde auch ich in der Stadt Huambo geboren, im Landes­inneren von Angola, nur fünf Jahre nach der Unabhängigkeit und mitten in einem Bürgerkrieg. Ich bin das Kind weisser Eltern, die ihre koloniale Vergangenheit ablehnten und die Unabhängigkeitsbewegung unterstützten. Aber ich bin auch Nachfahrin mehrerer Generationen portugiesischer Kolonistinnen, die ihr ganzes Leben in Angola verbracht hatten, bevor sie mit der Unabhängigkeit vertrieben wurden. Mehr als ein Jahrzehnt später, in den frühen 1990er-Jahren, zwang der Bürgerkrieg auch meine Eltern, Angola zu verlassen, die Nation, für deren Aufbau sie so hart gekämpft hatten. Also gingen sie wieder nach Portugal – „zurück", wie das die Leute in Portugal gerne nannten, als sei das Ganze eine langersehnte Heimkehr gewesen.

Plötzlich durfte ich mich nicht mehr stolz als Angolanerin bezeichnen, sondern musste mich als Portugiesin neu erfinden. Dieser Prozess ist für mich noch lange nicht abgeschlossen. Und er ist mit Scham behaftet. Deshalb sind die Fragen dieses Romans auch meine eigenen.

Geschichte mit Brüchen

Wie erträgt man die Schuld des Kolonialismus und den Schmerz darüber, dass drei aufeinander­folgende Generationen ihre Heimat verloren haben? Wie kann man das starke Gefühl der Verletzlichkeit aushalten, das entsteht, wenn man inmitten eines Krieges aufwächst? Wie überwindet man die Scham, „die falsche Hautfarbe" zu haben oder mit „dem falschen Akzent" zu sprechen – eine Scham, die ich in meinen jungen Jahren in Angola beziehungsweise in Portugal empfand? Wie entkommt man dem permanenten Schwebezustand, von dem auch Yara Nakahanda Monteiro spricht?

Monteiro fand ihr Ventil im Schreiben von „Schwerkraft der Tränen". Sie tauchte in die Archive ihrer Familie ein: Fotos, Briefe, sogar antikoloniale politische Pamphlete, die sie aufbewahrt hatten, kombiniert mit den persönlichen Erinnerungen ihrer Grossmutter an Angola. „Ich musste mich durch meine Geschichte wühlen, meine Geschichte verdauen", sagt sie in unserem Gespräch. Bei ihrer Suche sei sie auch auf ihre Ururgrossmutter Nakahanda gestossen, die versklavt worden war und deren Namen sie dann annahm.

Vielleicht muss ich an dieser Stelle betonen, was für ein Kunststück dieser Prozess der Geschichtsaufarbeitung ist, den die Autorin in ihrem Buch vollzogen hat. Monteiros Familie ist, wie meine, voller Widersprüche. Sie waren Angolaner, aber sie waren auch Teil des Kolonialregimes. Als die Gewalt ausbrach, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihr Heimatland zu verlassen. In Portugal wurden die Menschen, die in den späten 1970er-Jahren aus den neuen, unabhängigen Kolonien Moçambique und Angola und vor den schweren Guerillakämpfen dort flohen, als „Rückkehrer" bezeichnet. Eine Bezeichnung, die Monteiro nicht mag: „Sie waren Kriegsflüchtlinge", stellt sie klar.

Es gibt einen auffälligen Mangel an angemessenen Worten, um äusserst komplizierte historische Konflikte wie diese zu beschreiben. Sie haben Familien zerstört und Gemeinschaften gespalten – nicht alle schwarzen Angolanerinnen leisteten Widerstand gegen den Kolonialismus. Die Unfähigkeit, die Geschichte in Worte zu fassen, hat in Portugal wie auch in Angola zu einem Bruch im nationalen Gedächtnis geführt.

Welche Wahrheit?

Die Herausforderung also besteht darin, über den Kolonialkrieg zu sprechen, ohne einfache Erzählungen über Recht und Unrecht, Unter­drückte und Unterdrücker, Schwarze und Weisse zu entwerfen. Viele derjenigen, die dazwischen­lagen, werden sonst einfach aus der Erzählung herausgeschrieben.

Das Gleiche gilt für den Bürgerkrieg. Während der Zeit meiner Kindheit in Angola konnte man im einen Teil des Landes nicht über den anderen sprechen, ohne die Menschen dort als Monster darzustellen. Wenn ich heute jemanden aus Angola treffe, der oder die der anderen Seite angehört, denke ich sofort: „Feind." Der Krieg zwingt uns dazu, uns für eine Seite zu entscheiden und komplexe soziale und historische Realitäten zu vereinfachen. Wir entmenschlichen automatisch die anderen. Oder wie es die ältere Angolanerin Juliana, eine der Hauptfiguren des Romans, ausdrückt: Der Krieg macht aus uns allen Monster.

Denn Familiengeschichte gehört nicht allein denen, die sie erlebt haben. Die Nachgeborenen tragen die Biografie derer in sich, die vor ihnen da waren. Auch ich bin schon Teil dieser Vergangenheit, also gehört mir auch die Erinnerung.

„Schwerkraft der Tränen", brillant übersetzt von Michael Kegler, thematisiert die Last der Erinnerung durch die Reise einer Heldin zurück zu ihren Wurzeln – auch wenn diese Wurzeln niemals nur in einem einzigen Boden gründen werden.

Vitoria, Monteiros Heldin, ist vom Non-Dualismus geprägt. Sie ist sowohl schwarz als auch weiss, angolanisch wie auch portugiesisch. Sie war im Begriff, einen Mann in Portugal zu heiraten, hatte aber in Wirklichkeit eine tiefe Liebes­beziehung mit seiner Schwester. Selbst ihre Augen weigern sich, symmetrisch zu bleiben, und bewegen sich in entgegengesetzte Richtungen. Und doch sehnt sie sich nach einer einfachen Erzählung, die alle Fäden ihrer komplizierten Familien­geschichte zusammenführt.

Als sie in Tränen der Frustration ausbricht und Juliana, eine Art spirituelle Führerin, beschuldigt, ihr nicht die Wahrheit gesagt zu haben, antwortet die alte Frau:

Welche Wahrheit, Liebes? Die deiner Mutter, meine, die deiner Familie, die Wahrheit, die du hören willst (…) Welche Wahrheit?

Yara Nakahanda Monteiro weigert sich, uns mit einer einzigen Wahrheit zu konfrontieren. Die verwickelte Geschichte Angolas und Portugals verdient eine nuanciertere Aufarbeitung, damit alle, die unter den verschiedenen Formen von Gewalt, Verrat und Verlust gelitten haben, endlich einen Weg finden, ihre Toten zu ehren.

„Schwerkraft der Tränen" spiegelt eine neue Generation von Schreibenden aus Portugal, Angola und dem weiten Ort dazwischen wider, die binäre Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit infrage stellen. Ihre Perspektive ist entscheidend, um ganzen Gemeinschaften dabei zu helfen, die Wunden der Vergangenheit heilen zu lassen. Damit neues Leben entstehen kann.

Epilog

„Schwerkraft der Tränen" versucht nicht zu erklären, zu kategorisieren oder eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Monteiro lädt uns ein, mit der Protagonistin in der unübersichtlichen Grauzone zu verweilen und sich auf die Widersprüche einzulassen. Wie viele von uns können in Wirklichkeit behaupten, eine sauber geordnete Familiengeschichte, eine lineare Biografie oder gar ein einheitliches Zugehörigkeitsgefühl zu haben?

Dieser Roman lädt uns ein, anzuerkennen, dass der Weg zu einem wirklich mitfühlenden kollektiven Leben nicht in der Aufrechterhaltung einzelner, starrer Kategorien liegt. Sondern in der Vielfalt der Erfahrungen.

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