Mamadou Ba

© Miriam Thaler

Mamadou Ba
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Im Jahr 2017 noch eine Statue für António Vieira zu errichten, ist ein politischer Anachronismus.

Interview: Miriam Thaler 

Bis vor kurzem war in Portugal keine rechtsextremistische Partei im Parla-ment vertreten. Inzwischen gewinnt die radikal rechtspopulistische „Chega“ zunehmend an Zuspruch. Halten Sie das Aufkommen der extremen Rechten für eine Gegenreaktion auf antirassistische Kämpfe oder eher für eine Ent-wicklung auf der Linie dessen, was in ganz Europa passiert?

 

Es ist beides. Portugal gefällt sich in dem Bild einer Insel im Verhältnis zum Rest von Europa. Wenn wir auf die Existenz einer extremen Rechten hingewiesen haben, wurde uns oft vorgeworfen, wir seien die Ursache dafür, da wir Rassismus erst ins Gespräch gebracht hätten. Es hieß, wir würden damit den Zuspruch für Rechtsextremisten befeuern. Viele Leute aus fast dem gesamten Parteienspektrum warfen uns vor, wir würden zu viel über Rassismus reden und hätten dadurch erst das Gespenst des Rassismus im Land geweckt. Immer hieß es: „Seht mal, in Portugal gibt es noch keinen einzigen Abgeordneten einer rechtsextremen Partei.“

“Vielmehr glaube ich, dass ein Fortschritt der Menschheit nur möglich ist, wenn es uns gelingt, das in Frage zu stellen, was im Lauf unseres kollektiven Prozesses nicht gut gelaufen ist.” Nur gab es in Portugal immer schon eine extreme Rechte. Es gibt kein Land mit kolonialer Vergangenheit, das keinen strukturellen Rassismus kennt. Kein einziges. Zu sagen, wir hätten den Rassismus überwunden, ist Selbsttäuschung und eine Täuschung anderer. Man überwindet Rassismus in postkolonialen Gesellschaften nicht ohne eine historische Katharsis des Kolonialismus. Das ist unmöglich. Also glaube ich, dass wir es mit beidem zu tun haben: dem internationalen Kontext, der es der nationalen extremen Rechten ermöglicht, länderübergreifende rechte Netzwerke zu knüpfen und dadurch mit größerer Unterstützung zu wachsen, und dann die Situation im Land selbst, mit ihrem strukturellen Rassismus, den es in der portugiesischen Gesellschaft schon immer gab und der nur noch keine effiziente Stimme gefunden hatte, um sich unverblümt rassistisch zu äußern. André Ventura ist eine Art institutionelles Megafon des strukturellen Rassismus in unserem Land.

2017 haben Sie sich bereits an Protesten gegen eine neue Statue für Pater António Vieira beteiligt. Was hat Sie damals zu diesem Protest bewogen?

 

Der Protest wurde vom „Coletivo Descolonizando“ organisiert, einem informellen Netzwerk von Personen, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis beschäftigen, dem kolonialen Gedächtnis und seinen Auswirkungen auf aktuelle Verhältnisse. Ich gehöre selbst nicht der Gruppe an, aber ich kenne Leute, die dort mitgewirkt haben. Es war ein Netzwerk von Leuten, die sich zu diesem Thema verhalten wollten. Ich habe mich an dem Protest beteiligt und werde es weiterhin tun – jedes Mal, wenn es Proteste dagegen gibt, wie wir mit dem kolonialen Gedächtnis umgehen und mit dessen Auswirkungen auf die koloniale Schuld, die Auslöser ist für ethnisch-rassistisch begründete Ungleichheiten in der Gesellschaft heute. Ich halte  eine kollektive historische Katharsis für wichtig. 

“Von einer Gesellschaft, die eine historische Katharsis vollziehen will, sollte man erwarten, dass sie andere Figuren hervorhebt, andere Geschichten, andere Darstellungen, damit auch diese endlich einen angemessenen Platz in der Öffentlichkeit finden.”

Es nützt nichts, die Geschichte zu romantisieren, zumindest nicht, wenn wir es für möglich und notwendig halten, ein Gesellschaftsprojekt zu errichten, eine Zu-kunft, in der Menschen vor allem anderen als Personen gesehen werden. Ich glaube nicht an perfekte Helden, an perfekte Geschichten. Vielmehr glaube ich, dass ein Fortschritt der Menschheit nur möglich ist, wenn es uns gelingt, das in Frage zu stellen, was im Lauf unseres kollektiven Prozesses nicht gut gelaufen ist. Es muss eine Auseinandersetzung geben um die Erinnerung. Es ist daher gut, dass man den Mut aufbringt, den Gespenstern der Vergangenheit ins Auge zu blicken, denn man kann mit der Gegenwart nicht umgehen und auch nicht die Zukunft gestalten, wenn man nicht auf die Auswirkungen der Vergangenheit schaut.

Was stört Sie genau an dem Denkmal für Pater António Vieira?

 

Im Jahr 2017 noch eine Statue für António Vieira zu errichten, ist ein politischer Anachronismus. In einer Zeit, in der die Gesellschaft sich längst mit den Auswir-kungen des kolonialen Erbes auf das Leben der Menschen beschäftigt, gibt es nichts, absolut nichts, das es rechtfertigen würde, dass ein Teil der Gesellschaft des Landes ein Denkmal für António Vieira baut. So fortschrittlich, vernünftig, wohlmeinend und großzügig Pater António Vieira gewesen sein mag, hat es ihm ebenfalls nie an gebührender Erwähnung, Ehrung, Verherrlichung gefehlt. 

Und was ist mit den Opfern des Kolonialismus? Sie werden nirgends glorifiziert, gefeiert, erinnert. Wie kann man 2017, fast zwei Jahrhunderte nach Abschaffung der Sklaverei, auf die Idee kommen, einer Person ein Denkmal zu errichten, der dem Kolonialismus diente? Die Ästhetik der Statue beleidigt das Andenken derer, die kolonisiert wurden. Es ist unfassbar, wie Evangelisierung als humanitäres Projekt verkauft werden soll unter Beibehaltung des paternalistischen kolonialen Gedankengebäudes. Das ist anachronistisch und zeigt einen Mangel an Fingerspitzengefühl und politischer Ernsthaftigkeit. Es ist eine Vergangenheitssehnsucht – und Gesellschaften lassen sich nicht auf Vergangenheitssehnsucht errichten, sondern wir  müssen Lust auf die Zukunft haben.

Sie halten also den Bau eines Denkmals für die Leistungen António Vieiras in diesem historischen Moment der portugiesischen Gesellschaft für unangebracht?

 

Ich sehe keine Notwendigkeit dafür. Auch weil es ja schon mehr als genug davon gibt. António Vieira ist einer der meist unterrichteten, meist gewürdigten Autoren dessen, was im portugiesischen kolonialen Prozess Humanismus genannt wird. Von einer Gesellschaft, die eine historische Katharsis vollziehen will, sollte man erwarten, dass sie andere Figuren hervorhebt, andere Geschichten, andere Darstellungen, damit auch diese endlich einen angemessenen Platz in der Öffentlichkeit finden. Wenn wir tatsächlich den Schmerz überwinden wollen, die Wunde, das Leid des Kolonialismus, müssen wir bereit sein, Bedingungen dafür her-zustellen, dass Personen, die in der Vergangenheit für Menschenwürde gekämpft haben oder sich ganz aktuell dafür einsetzen, in der Musealisierung unseres kollektiven Gedächtnisses berücksichtigt zu werden.

Aber Pater António Vieira stellte sich gegen die Mächtigen seiner Zeit und kri-tisierte den Kolonialismus …

 

Es ist gut, dass wir das immer so lesen können und sagen, dass Pater António Vieira der Beste oder einer der besten seiner Zeit war. Zweifellos. Doch seine Zeit war eine Zeit der Entmenschlichung anderer Menschen.

Er stellte sich gegen den Vatikan, indem er Neuchristen und indigene Völker in Schutz nahm, das muss erinnert und gewürdigt werden, ganz zweifellos, denn es ist ein Erbe, das die Werte der Würde und Ethik der gesamten Menschheit bereichert, doch es heißt nicht automatisch, dass wir vergessen sollten, das er nichts  gegen die Versklavung von Schwarzen unternahm. Er ist also nicht frei von Kritik. Und aus dieser Haltung heraus war er beteiligt an einem Gedankengebäude, das insgesamt für die Menschheit nicht rühmlich ist.

Warum wird die Debatte um Padre António Vieira in Portugal so leidenschaftlich geführt?

 

Es scheint in Portugal eine kollektive Obsession für eine historische Absolution des Landes zu geben. Die Leute sind kollektiv davon besessen, von den Gräueln der Geschichte freigesprochen zu werden. So wird in jedem Hinterfragen der Vergangenheit eine unterschwellige Aufforderung zur Abbitte gesehen. In jedem Hinterfragen der Vergangenheit wird automatisch ein Angriff auf die Personen der Gegenwart gesehen.   

“Wie kann es sein, dass sich Menschen mehr über die Beschädigung einer Statue für einen längst Verstorbenen aufregen, als über die ganz konkrete Bedrohung von Menschen, die hier bei uns leben?”

Wir wollen die Geschichte, so wie sie war, gar nicht ändern. Wir wollen nur, dass sie sich nicht wiederholt und nicht perpetuiert. Um zu vermeiden, dass sie fortgeführt wird, müssen wir sie kennen, um sie neu zu gestalten. Dass dies geschieht, ist entscheidend. Es ist eine Verpflichtung und eine Einladung, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Es ist keine unumstößliche Anklage, sondern eher ein Appell, Verantwortung zu übernehmen für die Heilung der Wunden aus der Vergangenheit.

Wenn wir zusammen leben wollen, müssen wir neue Regeln festlegen, denn es wird niemals möglich sein, insgesamt so zusammenzuleben, wie wir es bisher getan haben. Natürlich müssen wir die Form wie wir zusammenleben neu erfinden. Und das zwingt uns zur Auseinandersetzung mit unseren kollektiven Erinnerungen,  dazu, sie zu zerlegen und genauestens zu inspizieren, um anschließend ein neues Vorgehen zu ermitteln, eine neue Perspektive, einen neuen Weg.

Im Sommer 2020, als in den Vereinigten Staaten und überall in der Welt die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung aufbrachen, wurde die Statue von António Vieira mit Graffiti beschmiert. Wie verhält sich SOS Racismo dazu?

 

Damals haben wir eine öffentliche Erklärung abgegeben und versichern weiter-hin, dass es eine von der extremen Rechten orchestrierte Aktion war. Wäre es ei-ne politische Aktion gewesen, würden wir sie nicht verurteilen, ganz klar, nicht zuletzt, weil ziviler Ungehorsam in einer Demokratie ein Instrument des demokratischen  Wettbewerbs ist. Aber ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass die Statue in einem Akt der Gegenpropaganda beschädigt wurde. Sie wurde von der extremen Rechten beschädigt, um in der öffentlichen Meinung eine Schockwelle auszulösen. In der Nacht nach der Beschädigung der António-Vieira-Statue wurden einige Institutionen und Zentren für Geflüchtete angegriffen. Es wurden unglaubliche, brutale Parolen gesprüht. Für mich ist klar, dass das Schriftbild an der Statue dem der anderen Parolen gleicht, die anschließend an anderer Stelle auf-getaucht sind.

Was mich tatsächlich erschüttert hat, war die Mediendebatte, die vor allem auf die Beschädigung dieser Statue fokussiert war. Wie kann es sein, dass sich Menschen mehr über die Beschädigung einer Statue für einen längst Verstorbenen aufregen, als über die ganz konkrete Bedrohung von Menschen, die hier bei uns leben?  

Glauben sie, diese Aktion wurde absichtsvoll eingesetzt, um die Aufmerksamkeit von anderen, wichtigeren Themen im Kampf gegen Rassismus abzulenken?

 

Wir können immer weiter über António Vieira streiten, aber das nützt wenig. Von der Debatte, die wir im Moment über Statuen führen, profitieren in Wirklichkeit die, die alles so erhalten wollen, wie es ist. Den Status Quo. Für mich ist das Zeitverschwendung. Die Leute haben es nach wie vor schwierig im Alltag.

Diese Debatte ist nicht das Wichtigste im Kampf gegen Rassismus, das ist doch klar. Die meisten rassifizierten Personen wollen nicht über António Vieira streiten, sondern über Polizeigewalt, Segregation der Wohnverhältnisse, prekäre Arbeit. Das ist es, womit sich die Leute beschäftigen wollen. Das ist es, wofür die Leute nach Lösungen suchen. Das soll nicht heißen, dass die Diskussion um Pater António Vieira nicht wichtig sei, nur steht sie für rassifizierte Personen in ihrem Alltag nicht an erster Stelle. 

Übersetzung: Michael Kegler

Miriam Thaler führte dieses Interview mit Mamadou Ba am 6.11.2020 im Rahmen einer Reportage rund um die 2017 in Lissabon errichtete Statue von Pater António Vieira. 2020 wurde das Denkmal wenige Tage nach Demonstrationen der Black-Lives-Matter-Bewegung im Zentrum der portugiesischen Hauptstadt teilwei-se mit roter Farbe und mit dem Wort „descoloniza“ (dekolonisieren!) bepinselt. Die Reportage ist hier zu lesen.