Apolo de Carvalho

© Luís Simões

Apolo de Carvalho
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„Signal der Konstruktion neuer Erinnerungen wäre anzuerkennen, dass der 25. April in Afrika entstand.“

interview: Marta Lança, 2020

Welche Orte würden Sie auswählen, um an die koloniale Geschichte und Gegenwart im Großraum Lissabon zu erinnern?
Warum?

 

Das Denkmal der Entdeckungen (pt. Padrão dos Descobrimentos) und die Statue des Marquês do Pombal.

Sie kamen  mir unter den vielen Optionen, die es gibt,  sofort in den Sinn: Es sind Orte, um die ein mythisches Bild des Landes konstruiert und vermarktet wird, sei es über die offizielle Geschichte, die alsEntdeckungen“ allgemein bekannt ist und die Taten des Marquês de Pombal romantisiert (ich erinnere hier zum Beispiel an das problematische Statement des Präsidenten Marcelo Rebelo de Sousa 2017 auf der Insel Gorée über die Abschaffung der Sklaverei), sei es in Form einer unkritischen Verwandlung dieser Orte in touristische Highlights, die andere Geschichten verschweigen und auslöschen. Dazu kommt, dass die Statue des Marquês do Pombal auf der Avenida da Liberdade Treffpunkt für einige antirassistische Demonstrationen war, die in den letzten Jahren in Portugal stattfanden. Die Besetzung dieses Raumes durch Schwarze Körper ist an sich bereits ein Akt der Selbst-Wiedergutmachung und des Aufstands, der die Statue und die Stadt mit der Präsenz einer Haltung konfrontiert, die nie erwünscht war.

Auf der anderen Seite werden diese Orte durch Narrative der Verherrlichung einer kolonialen Vergangenheit verbunden und strukturieren so eine Art nationale Identität, die viele Menschen ausschließt, die hier geboren wurden und sich nicht in diesen Narrativen wiederfinden.

Die Helden und historischen Taten, die das weiße Portugal zur Verherrlichung gewählt hat, üben Gewalt aus an den Schwarzen Portugies*innen und nicht nur das: Sie brechen mit jedweder Möglichkeit, zusammen eine Gemeinschaft zu schaffen.

„Ein wichtiges Signal der Konstruktion neuer Erinnerungen wäre zum Beispiel anzuerkennen, dass der 25. April in Afrika entstand.“

Welche anderen, immateriellen Elemente würden Sie wählen?

 

Zum Beispiel die Nationalhymne. Hymnen sind auch Orte der Erinnerung. Sie sind Räume oder die Idee eines imaginierten Raumes. Sie sind die Stimme, mit der eine souveräne Nation spricht und in der sie sich bestätigt, wie ein Bindemittel aller, die in dieser Nation leben. Die portugiesische Hymne schließt aus. Sie ist kolonialistisch, abgesehen davon, dass sie patriarchal ist, so wie ein Großteil nationalen Hymnen. 

Wie könnten Ihrer Meinung nach die Orte des Kolonialismus erinnert werden? 

 

Ich habe dazu keinen konkreten Vorschlag. Es gab viele Diskussionen und im globalen Norden liegt eine gewisse Angst in der Luft, was den Sturz von Statuen und die Zerstörung von Monumenten angeht. Diese Angst sehe ich wie eine „Agonie“ der Bestie, die sich in der Vorahnung des Endes der alten Welt windet und wild ausschlägt, um die neue Welt nicht entstehen zu lassen. Dabei wissen diese Bestien nicht, dass die Körper, die sie zu „Monstern“ gemacht haben, ein langes Gedächtnis haben. Es wäre interessant, die emanzipatorischen und mutigen politischen Vorschläge genauer zu beachten, die diesen Handlungen inhärent sind, die nun „Vandalismus“ genannt werden. Vielleicht ist Vandalismus nichts anderes als die Ausübung von Politik mit anderen Mitteln und in einer anderen Form.

In diesem Sinne könnte selbst die Zerstörung eines Monuments oder das Köpfen einer Statue, die anschließend so im öffentlichen Raum gezeigt werden, interessant sein, um einen anderen Diskurses zu schaffen. Ich weiß es nicht. Es gibt viele Ideen... einige sind „pazifistischer“. Aber es fehlt der politische Wille der Gesellschaft und des Staates. 
Finden Sie, dass es interessante Überlegungen zur Erinnerungspolitik in der Stadt gegeben hat?

 

Ich erinnere mich an die Diskussionen über ein Gemälde im Bairro dos Navegadores (Viertel der Seefahrer), das von der Gemeinde Oeiras in Auftrag gegeben worden war. Das Bild zeigt genau einen Seefahrer. Einige Menschen des Viertels protestierten, aber ihre Stimme wurde nicht gehört. Es fehlen Diskussionen, aber es mangelt auch daran, zu hören und umzusetzen, was gesagt wird und gesagt wurde. Der erste Schritt sollte ein Gespräch sein, in dem die Notwendigkeit kritischen Reflexion über die Kolonialität anerkannt wird, nicht nur über Orte, sondern über Narrative des physischen und imaginären Territoriums, das Portugal genannt wird. Die Orte selbst sprechen. Sie sind aktuelle Diskurse darüber, was dieses Land ist. Für die Schwarzen Menschen und Bewegungen war die Frage der Erinnerung immer ein wichtiger Aspekt des Kampfes. Dank das Schaffen von Erinnerungen, das für Wissen wie Humus wirkt, gelingt es, weiterzukommen und Widerstand zu leisten. Innerhalb dieser Bewegungen entstehen echte Erinnerungspolitiken von innen. Ich möchte hier zum Beispiel den Fall des Batuku [1] erwähnen, der in sich eine Art Institution kollektiver Erinnerung in den Außenbezirken Lissabon darstellt. Batuku war schon immer politisch, aufständisch und emanzipatorisch. Es sind diese nicht-hegemonischen Orte, bis zu denen die staatliche Politik nicht reicht, wo im Alltag die Erinnerung wie eine Politik des Lebens und eine Form, Gemeinschaft zu schaffen, diskutiert und gelebt wird. Hier gab und gibt es interessante Diskussionen. Es ist auch wichtig, das Projekt des Mahnmals zu Ehren versklavter Menschen zu nennen, das vom Verein Djass vorgeschlagen wurde. Die interessanten Reflexionen, die Veränderungen ermöglichen, existieren, das stimmt, aber sie kommen von unten. Von den Bewegungen, den Gemeinschaften.

Welche weiteren Vorschläge haben Sie, um zu neuen Erinnerungen beizutragen?

 

Ich würde vorschlagen, diese Diskussionen engagiert und nicht nur als „Lockmittel“ in die Viertel zu tragen. Ich glaube daran, dass Kunst die Antwort auf viele dieser Fragen sein kann. Schwarze Künstler*innen können heute sehr zu einer Konstruktion von „Erinnerungen an die Zukunft“ beitragen. Sie sind bereits hier und haben trotz der prekären Bedingungen Möglichkeiten geschaffen. Die Menschen brauchen auch ein Leben in der Imagination und die Schwarzen Künstler*innen können uns dabei helfen, gemeinsame Horizonte zu erspähen und uns die alte Kunst lehren, „durchlässig für jeden Atemzug der Welt zu sein“, wie Césaire gesagt hat. Wir können auch andere Erinnerungen an die Vergangenheit schaffen. Ich erinnere mich an diesen Satz von CLR James aus einem anderen Kontext, der mir aber sehr hilfreich zu sein scheint, um auf diese Frage zu antworten: „These are my ancestors, these are my people, they are yours too if you want them”. Ein wichtiges Signal der Konstruktion neuer Erinnerungen wäre zum Beispiel anzuerkennen, dass der 25. April in Afrika entstand und auch Amílcar Cabral, der vormals Terrorist genannt wurde, als eine wichtige Figur in der Geschichte der Demokratisierung dieses Landes anzuerkennen. Es existiert auch das Konzentrationslager Tarrafal, jene Vorkammer eines langsamen Todes, die heute eine gemeinsame Erinnerung an den Kampf konstituieren könnte. Ich zweifle jedoch daran.

Übersetzung: Bettina Wind

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Fußnoten

[1] Batuque (Batuku oder Batuk in kapverdischem Kreol) ist ein Musikgenre, kulturelles Erbe und Tanzgenre aus Kap Verde.