In den mehr als 55 Jahren seit seiner formalen Gründung ging das Museum über diver-se Brücken zwischen Diktatur und Demokratie, Wissenschaft und Kultur, unterschiedlichen Formen der Schaffung eines wissenschaftlichen Bestandes und der Vermittlung kulturellen Wissens [1]. In der Dauerausstellung ist dem Werden des Museums ein eigener Zeitstrahl gewidmet, doch die eher karge Abhandlung seiner eigene Geschichte, insbesondere was das Verhältnis zum Kolonialismus und der Anthropologie selbst angeht, ist für Fachleute oder Interessierte eher ernüchternd und lässt das allgemeine Publikum weit-gehend im Unklaren. Für die Rekonstruktion der Biografie eines nach einem einschnei-denden politischen Bruch [2] umgewidmeten spätkolonialen Projekts bedarf es eines genauen Blicks auf Praktiken der Produktion und Verbreitung von Anthropologie mit jeweils eigenen Zeitachsen, die sich bisweilen nicht einmal treffen, manchmal wiederum miteinander verschmelzen.
2013 eröffnete das Nationalmuseum für Ethnologie seine erste Dauerausstellung, ein historischer Meilenstein der Institution. Zum ersten Mal wird dem Publikum dauerhaft Einblick in einen Teil seines Bestands gewährt. Drei Bereiche zu portugiesischen Themen, drei weitere zu Afrika und einer zu Asien stellen seitdem die Pluralität des Be-stands unter Beweis, derzeit „42.000 Objekte, 380 Kulturen, 80 Länder, 5 Kontinente“ (MNE 2020). Bis dahin hatte es als eines der ersten in Portugal nach 1974 von Grund auf neu eingerichteten Museen nur mit unregelmäßig stattfindenden temporären Aus-stellungen aufwarten können, sowie mit der Öffnung zweier Bereiche für eingeschränkten Publikumsverkehr: das portugiesische Landleben (2000) und Amazonien (2006). Die Dauerausstellung sollte das öffentliche Interesse an einem der am wenigsten besuchten portugiesischen Museen steigern, sowohl in Lissabon, wo es sich befindet, als auch im nationalen Verbund der kulturellen Einrichtungen.
Joaquim Pais, zwischen 1993 und 2013 dienstältester Direktor der Institution, nannte die Dauerausstellung „Ein Museum, zahlreiche Dinge“. Die zweideutige Bezeichnung trifft auch auf die Beschaffenheit der Institution selbst zu, die offiziell 1965 während des portugiesischen Spätkolonialismus als Ethnologisches Überseemuseum (Museu de Etnologia do Ultramar; MEU) entstand. Die ursprüngliche Intention des Estado Novo war die Gründung einer Institution zur Produktion und Verbreitung von Kulturanthro-pologie, die zur damaligen Zeit bezogen auf die kolonisierten Territorien nur schwach ausgeprägt war. Um die Modernität des auch über den Zweiten Weltkrieg hinaus herrschenden Kolonialregimes unter Beweis zu stellen, öffnete sich die Diktatur institutio-nell der damals als Sozialwissenschaft neudefinierten Disziplin – ein Bruch mit der andernorts noch naturwissenschaftlichen Auffassung von Anthropologie. Das Museum reifte schließlich im Übergang zur Demokratie, die das Land aus dem Zustand des Kolonialismus in eine Phase der Dekolonisierung überführte, einen vorübergehenden politi-schen Prozess, der allerdings Gesellschaftsdynamiken auslöste, die ihre Wirkung bis heute entfalten.
Der heutige Sitz
Einer der jüngeren Vorläufer des Museums ist das heutige Gebäude, das bereits die Handschrift des Modernismus und erst ein Jahrzehnt nach seiner formellen Gründung fertiggestellt wurde. Das Gebäude liegt in Restelo gegenüber dem Generalstab der Portugiesischen Streitkräfte sowie dem Verteidigungsministerium. Als es geplant wurde, war dort noch das Überseeministerium, die über den Ausschuss für Überseeforschung (Junta de Investigações do Ultramar) für das Museum zuständige Behörde. Das autoritäre Regime ließ also in Sichtweite des imposanten Standorts der Behörde für die kolonisierten Gebiete ein Museum zur Aufbewahrung, Produktion und Verbreitung anthropologischen Wissens über seine Kolonien errichten. Doch als dort die erste Ausstellung gezeigt wurde, war das Ministerium selbst bereits dem für territoriale Raumordnung (Coordenação Interterritorial; 1947 bis 1975) angegliedert, das ab September 1975 Staatssekretariat für Dekolonisierung, anschließend (von Oktober 1975 bis September 1976) für Internationale Zusammenarbeit, im Januar 1976 schließlich dem Institut für Wirtschaftszusammenarbeit (Instituto para a Cooperação Económica) unterstellt wurde. Als das Museum endlich funktionstüchtig war, hatte sich alles drum herum bereits verändert.
Die Zeit bis zum Bezug des Gebäudes in dem Jahr, in dem der Militärputsch den revolu-tionären Übergang zur Demokratie einleitete (1974), lässt sich als lange Embryonalphase des Museums beschreiben. Die Demokratie nahm ihm schließlich die einschränkende Zuschreibung „Übersee“ und befreite es von den kolonialen Fesseln, welche das Museum und seine multikulturellen Bestände auf vielfältige Weise daran gehindert hatten, sich selbst zu finden. In dieser Übergangsphase und mit einem beachtlichen Bestand (der lediglich die Hälfte des heutigen ausmachte), jedoch mit geringen Möglichkeiten der öffentlichen Präsentation, war das Revolutionärste an dem Projekt nicht seine umfassendere Bezeichnung, sondern der Bezug des Gebäudes selbst, das auf die Katalogisierung des bereits vorhandenen Bestandes ausgerichtet war und endlich Voraussetzungen für ein Hineinwirken in die Gesellschaft bot. Ein funktionierendes Museum.
Vorgeschichte
Bereits vor seiner Institutionalisierung 1965 und bis zum Einzug am heutigen Standort wanderte das embryonale Museum durch diverse Gebäude in Lissabon. Bereits in der Phase seines Aufbaus im Zuge der sogenannten Vorbereitungsmission für ein Überseemuseum Jahre zuvor ergab sich ein ständig wachsender Bestand, der schon damals aufgrund mangelnder Räumlichkeiten Veränderungen notwendig machte und das Museum zum Umzug zwang. 1962 zieht es aus dem Bezirk Príncipe Real in den Burnay-Palast in Junqueira und belegt 1963 für kurze Zeit einen Teil des Jardim Tropical in Belém. Die beiden darauffolgenden Standorte – in der Rua Rodrigo da Fonseca nahe Rato (1963-1965) sowie anschließend im Palácio Vale Flor (1965-1974) am Alto de Santo Amaro, das heute ein Luxushotel ist - machten die Institutionalisierung eines kleinen Personalbestands notwendig, um Erwerb, Katalogisierung, Verwaltung und Forschung zu gewährleisten. Die Außenwirkung des Museums war in dieser Zeit beschränkt, mit gerade einmal vier bis fünf Ausstellungen an den unterschiedlichen Orten in Lissabon.
Ungeachtet der Intention des Regimes legte die erste Belegschaft den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Erfassung eines wissenschaftlichen Bestandes durch eigene Sammlungen nach damals modernsten Verfahren und Ausrüstungen zur ethnografischen Dokumentation, Fotografie, Tonaufzeichnung und insbesondere Film. Sie bauten einen Verbund von Archiven auf, um ihre Bestand zu verwalten, Feldforschung zu betreiben und somit in Hinblick auf zukünftige Untersuchungen kultureller Diversität und Praxis, die Erfassung einzelner Objekte mit anderen Daten zu verbinden. Dabei orientiert sie sich am nordamerikanischen System der Human Relation Area Files der Ordnung nach geografischer Herkunft (Kontinent, Land), Kulturraum und Funktion zur einerseits spezifischen, andererseits aber auch komparatistischen Forschung – frei von den evolutiven Prinzipien der Kulturanthropologie vorangegangener Epochen.
Ansicht der Baustelle des Museu Nacional de Etnologia (ca. 1973). ©Arquivo foto-gráfico do Museu Nacional de Etnologia/DGPCEmbryonale Sammlungen und Erwerbungen: innerhalb und außerhalb des Imperiums expandierende Geografien
Das Paradigma der bis zu den ersten Jahrzehnten im eigenen Gebäude realisierten Aus-stellungen war nicht die erst später in der Anthropologie entstehende Reflexivität, son-dern Objekte wurden ungeachtet ihrer Ursprungskultur als zeitlose Darstellungen angesehen. Im heutigen Kontext laufender Auseinandersetzungen um die Rückgabe von Objekten, historische Wiedergutmachung und neue Museumspraxis stellen sich viele Fragen über die wenigen mit dem embryonalen Bestand des Museums verbundenen Biografien und ihre wenig erkennbaren Vergangenheiten: welche und wessen Objekte wurden von wem und auf welche Weise gesammelt? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach (s. die Position des derzeitigen Direktors zur Restitution in Canelas 2018). Ausgehend von einer Inventur aus dem Jahr 1972, zwei Jahre vor Einzug ins heutige Gebäude, die den Bestand auf seinerzeit etwa 21.000 Objekte beziffert, will ich nur einige Hauptlinien der geografischen Herkunft und der beteiligten Akteure skizzieren.
Eine der Besonderheiten dieses Museums, die in mehreren Ausstellungen vor und auch nach dem Bezug des heutigen Gebäudes thematisiert wurden, besteht in der Herkunft eines Teils des Bestandes aus dem kontinentalen Portugal oder seiner vorgelagerten Inseln. Diese Sammlungen von beträchtlichem Umfang unterscheiden das Museum einerseits von anderen europäischen Museen mit außereuropäischen Kolonialsammlungen, die ländliche Folklore auf dem eigenen Territorium nicht berücksichtigen, und bringen es andererseits in die Nähe älterer portugiesischer Museen (etwa des heutigen, 1893 gegründeten, Archäologiemuseums oder des seit 1948 bestehenden Museums für Volkskunst, jeweils in Lissabon). Beides lag vermutlich nicht in der Absicht der Initiatoren, die diesen Bereich der Forschung und Ausstellung kaum unterstützten.
Die metropolitane Forschung und Sammlung, die ein großer Teil des ursprünglichen kleinen Teams in der Anfangszeit entwickelte, hatte einen starken Einfluss auf die portugiesische Anthropologie nach dem demokratischen Übergang. Sie prägte die Wahrnehmung des Museums, das mehrere Jahrzehnte lang von zwei Forschungszentren getragen wurde: das sich schwerpunktmäßig mit den portugiesischen Kolonien befas-sende Zentrum für Kulturanthropologie CEAC sowie das Zentrum für portugiesische Ethnografie CEEP. Die Eingliederung dieser beiden Forschungslinien in das entstehende Ethnografische Überseemuseums MEU entspricht nicht der formaladministrativen Gründung dreier getrennter Institutionen (MEU /CEAC / CEEP). Während ein harter Kern sich weiterhin zwischen allen drei Institutionen bewegte, verlor sich dieses Bewusstsein von Einheit jedoch wiederum im Zuge der Loslösung der besagten Zentren in den 1990er-Jahren und der damit verbundenen Aufteilung der Ressourcen für die Be-wahrung ihrer jeweiligen Geschichte und Erinnerung.
Vom progressiven Flügel des Salazar-Regimes zur Gründung eines auf die Kolonien spezialisierten kulturanthropologischen Zentrums angeregt, erwies sich der in Deutschland promovierte Spezialist in portugiesischer Ethnologie Jorge Dias (1907-1973) als Mentor beider Linien. Dias Antwort war, das von ihm geleitete CEEP von Porto nach Lissabon zu verlegen, sowie das CEAC und zugleich das MEU neu zu implementieren. Auf der Suche nach Berührungspunkten skizzierte Dias die Idee eines Universalmuseums ohne Trennung in europäische und außereuropäische Kulturen, was aber formal nie umgesetzt werden konnte. Der Blick auf den übrigen Bestand dieser Phase vermittelt einen Eindruck dessen, was er beabsichtigte – außer Portugal selbst scheint auch kein weiteres europäisches oder westliches Land einbezogen gewesen zu sein.
Abzüge der fotografischen Dokumentation der Feldforschung im Fotoarchiv des MNE, 2017 © Inês Ponte
Galerie des Landlebens, eins der zugänglichen Archive des Museu Nacional de Etnologie, eröffnet 2000. Foto: António Rento © Arquivo fotográfico do Museu Nacional de Etnologia/DGPC
Amazonien-Ausstellung, eines der zugänglichen Archive des Museu Nacional de Etnologia, eröffnet 2006. Foto: FG+SG © Arquivo fotográfico do Museu Nacional de Etnologia/DGPC
Zu dem Interesse an portugiesischer Ethnografie kam nun auch ein anderes
über den damaligen portugiesischen Kolonialraum hinausgehendes, wie der
von Ernesto Veiga da Oliveira (1910-1990) zusammengestellte Katalog Escultura Africana em Portugal
(Af-rikanische Bildhauerei in Portugal; 1985) veranschaulicht. Die ‘88
ausgestellten Werken stammen nicht nur aus unterschiedlichen
institutionellen und privaten Sammlungen, sondern auch aus
unterschiedlichen Ländern wie Angola, Guinea-Bissau und Mosambik sowie
aus Burkina Faso, Kamerun, Côte D’Ivoire, Gabun, Ghana, Mali und
Nigeria. Auffällig ist, wie viele Objekte aus der Sammlung Vitor
Bandeira (geb. 1930) stammen. 2017 illustrierte eine Ausstellung der von
ihm über 40 Jahre zusammengetragenen Objekte aus Myanmar, Thailand,
Japan und Sri Lanka abermals die Bedeutung dieser langjährigen
Zusammenarbeit, die seit der Entstehungszeit des Museums zum Erwerb weiterer 5000 Objekte führte. 1985 als „Künstler und Gelehrter, Kunstliebhaber und Antiquitätenhändler“ beschrieben, ließ sich der Weltreisende und Abenteurer Bandeira
von der Ästhetik nicht westlicher Kulturen leiten und beschränkte sich
dabei nicht auf damals von Portugal kolonisierte Gebiete.
Die ‚guten‘ von Bandeira zusammengetragenen Stücke verraten eine auf das
Universum der außereuropäischen Kunst ausgerichtete Agenda der
Museumsgründer, den schrittweisen Versuch, das Konzept sogenannter
„Eingeborenenkunst“ zu entthronen, die ihrerseits eine spätkoloniale
Umetikettierung der als „Schwarzafrikanisch“ bezeichneten „primitiven
Kunst“ war. Eine eigene Ethnografie entsteht aus den offiziellen
Expeditionen des Museums auf von Portugal kolonisierten Gebieten als
dritte substanzielle Säule des Ursprungsbestandes.
Koloniale Geografien
Das Museum entstand unter den Vorzeichen eines Drangs nach einem eigenen Bestand als Reaktion auf die Sammlungstätigkeit anderer westlicher Nationen mit kolonialem Anspruch. Nach den europäischen militärischen Plünderungen, den ersten afrikanischen Unabhängigkeitserklärungen und der Gründung der UNESCO verstärkte sich weltweit die wissenschaftliche Tätigkeit. „Gute“ ethnografischen Stücke begannen auf kolonisiertem Gebiet selten zu werden, und in dem soeben im Mutterland geschaffenen Archiv-Museum für Übersee fehlte es noch an nennenswerten Exemplaren und entsprechender ethnografischer Information. Hinzu kam noch der Druck anderer europäischer Nationen, die ungeachtet der tatsächlich geringen Beteiligung portugiesi-scher Wissenschaftler eigene Expeditionen auf portugiesisches Kolonialgebiet ausrichteten – Was in diesen Territorien an Objekten noch übrig war, diente also der Wissenschaft anderer westlicher Länder.
Solche und andere Argumente führten schließlich zu den „ethnografischen Erkundungsmissionen“ in von Portugal kolonisierte Gebiete zwischen 1962 und 1973, einer Zeit, die dort bereits von bewaffneten Konflikten gezeichnet war (Angola seit 1961, Guinea-Bissau seit 1963, Mosambik seit 1964). Das Museum war in einer Zeit des Vertrauens in die Kontinuität des Kolonialregimes geplant und gegründet worden, wofür auch die ersten vier Doppelexpeditionen nach Mosambik und Angola (1956-1960) sprechen. Kurz darauf, und während auf höherer Ebene das Imperium bereits verschwand, hatte das Personal des Museums andere Sorgen: Knappe Finanzmittel für die Expeditionen in die Kolonien, das Ausweichen zwischen den Kriegsfronten, die Beschaffung von Herkunftszertifikaten, der Kampf um den knapper werdenden Raum zur Lagerung, Organisierung und Ausstellung des wachsenden Bestandes. In dieser Zeit wurden unter der Verantwortung nur sehr weniger Forschender mindestens 14 mehrmonatige Missionen einzelner oder in Teams (sechs nach Angola, fünf auf die Kapverden, zwei nach Guinea und eine nach Mosambik) durchgeführt.
Die von übergeordneter Stelle finanzierten Expeditionen wurden schließlich ein heute etwas in Vergessenheit geratener Bestandteil der Tätigkeit in der Embryonalphase des Museums. Der demokratische Übergang ließ das Interesse der portugiesischen Anthropologie am eigenen ländlichen Universum wieder aufleben, das sich anschließend der Stadtkultur zuwandte, dem heute vorherrschenden Forschungsgegenstand. Das Museum versuchte, mit dieser Verschiebung auf Nahegelegenes Schritt zu halten (die Ausstellung Fado: vozes e sombras [Fado: Stimmen und Schatten] von 1994 ist dafür wohl das prägnanteste Beispiel) und sich als Vermittler zwischen den eigenen Kulturen und seinem urbanen und suburbanen Publikum geografisch, gesellschaftlich oder in beiderlei Hinsicht fernen gesellschaftlichen Bereichen außerhalb Europas zu behaup-ten. Unter Bedingungen der Demokratie wurden die Expeditionen in die Kolonien als Ganzes nur selten thematisiert, die noch heute eher als erratisch anstatt als Ergebnis präziser Forschungsvorhaben wahrgenommen werden, deren große Intensität den-noch den Grundstock umfangreicher Sammlungen anschließend katalogisierter Objekte und Dokumentationen schuf, auf die sich zahlreiche Abteilungen des Archiv-Museums stützen – insbesondere was Fotografie aber auch Tonaufzeichnungen angeht - und wissenschaftliche Publikationen hervorgebracht hat. Die temporären Ausstellungen des Museums zum afrikanischen Kontinent zeigen die sukzessiven Herangehensweisen der Erforschung dieses Bestands durch die Belegschaft der Gründerzeit und aller darauffolgenden.
Von der Kunst der Völker und Kulturen (1972) zur Schönheit des Alltäglichen (2003)
Bis 2000 widmete sich das Museum zahlreiche Ausstellungen afrikanischer Kunst und Kultur, basierend auf Dialogen zwischen Anthropologie und moderner Kunst: Povos e Culturas (Völker und Kulturen, 1972). Die noch von den Gründern konzipierten Exhibitionen, die bereits erwähnte Escultura Africana em Portugal (Afrikanische Bildhauerei in Portugal, 1985), Escultura Angolana (Angolanische Bildhauerei; 1994), wurden von einer belgischen Expertin für Chokwe-Kunst aus dem Nordosten Angolas organisiert, die sich mit der kulturellen Diversität des künstlerischen Ausdrucks in dem damals noch jungen und im Museum am meisten vertretenen Land auseinandersetzt, ohne auf den zurückliegenden (Kolonial-), noch auf den laufenden (Bürger-)Krieg einzugehen. Zudem gab es die Ausstellung Na Presença dos Espíritos (In der Anwesenheit der Götter; 2000), ausgewählt von einem nordamerikanischen Experten für afrikanische Kunst, mit Stücken aus unterschiedlichen Ländern des Kontinents.
Die Wertschätzung des ersten Teams für den ästhetischen Wert der Stücke spiegelt sich im nur spärlichen Einsatz von Bildern der Ursprungszusammenhänge im Rahmen der Ausstellung und der ausschließlichen Verwendung von Studioaufnahmen der Stücke im Katalog wider. Im Lauf der Jahrzehnte lässt sich eine zunehmende ethnografische Tiefe beobachten, insofern als das nun Studioaufnahmen neben die Aufnahmen aus originalen Kontexten gestellte werden – merkwürdigerweise zunächst unter Verwendung von Aufnahmen aus anderen Quellen und nicht aus dem in der Embryonal-phase angelegten eigenen fotografischen Archiv, später jedoch durchaus auch mit Bildern der jeweiligen Ursprungszusammenhänge.
Diese Ausstellungen, manche davon auch mit Stücken aus anderen Museen, bemühten sich kaum darum, auch die Umstände der Entstehung der Sammlungen durch die Expeditionen des Museums zu umreißen. Eher von diesem Prinzip leiten ließen sich zwei weitere Ausstellungen. Die eine, Panos de Cabo Verde e Guiné (Stoffe aus Kapverde und Guinea 1999) - eine pädagogisch ausgerichtete Ausstellung des damals interdisziplinären Teams über Textiltechniken und -technologien und ihre kulturellen Besonderheiten im Verlauf eines längeren Zeitraums. Ihr Katalog stellt wissenschaftliche, künstlerische und bibliografische Forschungsergebnisse zweier Mitglieder des ersten Teams aus fünf Expeditionen auf die Kapverden und zwei nach Guinea anhand der zusammengetragenen Stücke vor. Eine erste Bilanz dieser sieben Missionen umfasst außerdem die von einem der Beteiligten geleiteten fünf Expeditionen nach Angola und eine nach Mosambik. Diese noch um die andere, spätere Ausstellung mit Stücken aus Angola sowie um weitere von dort stammende, historische Sammlungen aus dem Bestand zu erweitern wäre vielversprechend.
Die zweite Ausstellung, A Vez dos Cestos (Die Stunde der Körbe; 2003) unter der Verantwortung der externen Anthropologin Sónia Silva, markiert einen deutlichen Bruch, indem sie anhand des Bestands und der Archive der Institution, mittels Feldforschung im inzwischen unabhängigen Angola sowie mit neuen Verfahren über die unterschiedlichen Wege und Interessenslagen der Sammlungen der ersten Phase des Museums selbst reflektiert. Die Ausstellung betont die Biografien der aktuellen und historischen Gegenstände und stellt Bilder aus dem fotografischen Archiv (1956-1973) neben professionelle Aufnahmen aus dem mit der Unabhängigkeit einsetzenden Bürgerkrieg (1975-2002) – anders als die Gründergeneration, die afrikanische Stücke stets losgelöst von ihrer Geschichte betrachtete.
Dabei berücksichtigt A Vez dos Cestos auch den ästhetischen Wert, genau wie die Gründergeneration, die allerdings stets die „Hohe Kultur“ der dargestellten afrikanischen Gesellschaften über Skulpturen, Ritualgegenstände und Machtsymbole als „gute“ ethnografische Objekte betonte und Alltagsgegenstände vernachlässigte. A Vez dos Cestos stellt den oft hinter dem Alltagsgebrauch verschwindenden ästhetischen Wert von Gebrauchsgegenständen heraus – die noch 40 Jahre nach ihrer Aufnahme ins Museum in bis dahin verwirklichten Ausstellungen wegen ihrer Banalität meist ein Schattendasein fristeten. Eine derartige Unterscheidung der Stücke schafft durchlässige Grenzen zwischen privaten Erwerbungen (in denen als Objekt herausgestellte Einzelstücke überwiegen) und solche aus Forschungsmissionen (mit überwiegend Alltagsob-jekten aus aufbereiteten Sammlungen).
In den letzten Jahrzehnten thematisieren temporäre Ausstellungen zunehmend die Bedingungen der Entstehung von Sammlungen nach 1974. A Vez dos Cestos widmet diese Aufmerksamkeit auch denen aus der Embryonalzeit.
Fazit
Sporadisch hinterfragt das Museum Artefakte, Sammlungen und die dazugehörige Dokumentation seines historischen Bestandes und baut Brücken in die Vergangenheit (etwa durch Beteiligung an der Ausstellung Testemunhos da Escravatura (Zeugen der Versklavung; 2017)). Mittlerweile ist es jedoch eher dafür bekannt, sich dem umfassenden eigenen Erbe innerhalb der portugiesischen Anthropologie zu widmen, als da-für, den eigenen portugiesischen Spätkolonialismus zu reflektieren. In der Betrachtung der Chronologie der Ausstellungen des späten Museums wird der Kolonialismus ein einziges Mal ausdrücklich im Titel genannt: in einer Ausstellung aus dem Jahr 1995, organisiert von einer französischen Historikergruppe "Imagens e colónias", iconografia e propaganda colonial na África francesa numa longa duração (1880-1962) über französische Kolonisierung.
Teil der „späten“ Aspekte dieser vom portugiesischen Kolonialregime angestoßenen Initiative – die Expeditionen in die Kolonien zu Zeiten des Krieges, der Bau, ein regelmäßiges Veröffentlichungsprogramm, die noch junge Dauerausstellung – sind auch zwei besonders erwähnenswerte „Verästelungen“: Parallel zu den umfassenden Sammlungen portugiesischen Kunsthandwerks ist der Bestand des Museums inzwischen auch eine beeindruckende Landkarte unzähliger Territorien mit turbulenter Vergangenheit unter europäischer, insbesondere portugiesischer, Imperialherrschaft – ein weites Repertoire an nicht-westlichen Kulturen, die nach ständiger historischer Wiederherstellung schreien und nach Wiederentdeckung in der Gegenwart.
Dauerausstellung des do Museu Nacional de Etnologia seit 2013. Foto: FG+SG ©Arquivo fotográfico do Museu Nacional de Etnologia/DGPAls Projekt der Erforschung und Veröffentlichung kultureller Diversität ließen der multikulturelle Bestand und zahlreiche Ausstellungen dieses in Lissabon gegründeten Museums eine Abfolge von Ausstellungen über die unterschiedlichsten „Ecken“ der Welt entstehen, verstärkt noch durch neue Erwerbungen sowie neue Aufgabenstellungen für den historischen Bestand. In all seiner territorialen Weite einschließlich heutiger Nationen, die früher Kolonien waren, beschäftigte es sich eher mit ländlichem Raum als mit städtischem, einer sowohl in Hinblick auf das ursprüngliche Zielpublikum einer kleinen Gemeinschaft von Forschenden und Studierenden als auch auf ein heute als bedeutend größer anzunehmendes allgemeines Publikum, eher fremden Welt.
Die Tätigkeit der Gründergeneration in Portugal selbst wie auch in den Kolonien, sowie ein externes, geografisch breiteres Sammelgebiet bilden ein einzigartiges Triptychon der Akquise des embryonalen Bestands. Bleibt noch ein vierter substanzieller Bestand-teil zu erkunden, nämlich die Reihe historisch weniger bekannter Geschichten rund um die Stücke - ihre Ursprungskulturen und Sammler, welche zu einer weiteren Beschäfti-gung mit der ambitionierten Universalität dieses Projekts führen würden, nicht einmal unbedingt durch die sich daraus ergebende wissenschaftliche Praxis und zeitgemäßere Interpretationen (wie über Lamellophone aus Angola, Mosambik und Guinea-Bissau; Kubik 2002), sondern vor allem über die Erkundung eines erweiterten Spektrums der Kolonialgesellschaft und ihre Mobilität zwischen Kolonien und Kernland, über die wir bis heute nur wenig wissen. Es ist nicht klar, in welchem Umfang eine Erschließung der daran beteiligten Biografien möglich ist, doch in ihnen steckt Potenzial, da sie uns heute über die Geschichte dieses Museums, den Kolonialismus, die Anthropologie und im Glücksfall auch interkulturelle Zusammenhänge der Sammlung im Licht unserer Gegenwart erzählen könnten.
Ein Katalog von 1985 listet einen Bestand von damals 30.000 Stücken auf, eine Zunah-me um 9.000 seit 1972. Die derzeitigen 48.000 Objekte sind also ein Zeichen der auch nach dem Übergang zur Demokratie anhaltenden Erwerbungspolitik. Als Gegengewicht zur derzeitigen Lage verstärkt aufkommender Auseinandersetzungen über Rückgabe bemühen sich viele europäische Museen weiterhin um den Erwerb aktueller wie histo-rischer Stücke sowie der dazugehörigen Dokumentationen. Dieses Museum tut dies, als hinge seine Zukunft mehr davon ab, als von der Reflexion über die unterschiedli-chen Vergangenheiten, die es mehr aufbewahrt als aufbereitet. Heute noch hat es die Möglichkeit, seine Vergangenheit und Gegenwart sowie der Gegenstände, die es über die Jahre zusammengetragen hat, zu hinterfragen. Unter dem Gesichtspunkt der eige-nen Gegenwart wird weiterhin genug Arbeit zu erledigen sein.