Die Amulette „Bolsas de Mandinga“ – Symbol des Schwarzen Widerstands in Lissabon
Paula Cardoso
Paula Cardoso ist Gründerin der digitalen Community Afrolink, ein Karrierenetzwerk für Afrikaner*innen und Aufroeuropäer in Portugal. Sie ist Autorin der Kinderbuchreihe Força Africana und beteiligt sich an Projekten zur Förderung größerer Schwarzer Beteiligung in der portugiesischen Gesellschaft. Mit demselben Ziel wirkt sie im Team der Online-Talkshow O Lado Negro da Força (Die Schwarze Seite der Macht) mit und präsentiert die zweite Staffel der Black Excellence Talk Series auf RTP África. Zudem beteiligt sie sich am Bürgerforum Fórum dos Cidadãos zur Stärkung der portugiesischen Demokratie sowie am Mentorinnenprogramm HeforShe Lisboa. Sie stammt aus Mosambik, studierte Internationale Beziehungen und arbeitet als Journalistin.
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Das historische Stadtviertel
Bairro do Mocambo, das heutige Madragoa, wurde vom 16. Jahrhundert an zu einer Bastion Schwarzer Präsenz in Lissabon. Mit dem Beginn des Sklavenhandels wuchs die Schwarze Bevölkerung in dem Viertel stark an. Ein Symbol dafür war die Berühmtheit der
Bolsas de Mandinga
(Die Taschen der Mandinka). Das Erbe dieser Schutzamulette, das mit der Inquisition beginnt, zeugt von einer langen Geschichte vielfältiger Integrationsstrategien bis zu den Schauplätzen neuer Schwarzer Kämpfe in der Gegenwart. Darin steckt auch der Appell, über Konzepte des Widerstands nachzudenken, die in der herkömmlichen Geschichtsschreibung kaum berücksichtigt werden und die im kollektiven Bewusstsein nicht verankert sind.
Schutz vor Messerstichen, Schüssen und Schlägen
Beide Prozesse stehen im Zusammenhang mit den Bolsas de Mandinga
(„Taschen der Mandinka“), die sich in Portugal seit dem 17. Jahrhundert verbreiteten und denen magische Schutzwirkung zugeschrieben wurde.
„Sie schützten vor Messerstichen, Schüssen und Schlägen durch grausame Herren“, erklärt der amerikanische Historiker
James Sweet. Ihre Wirksamkeit sei im Rahmen von Straßenspektakeln öffentlich demonstriert worden. Dorthin strömten Afrikanerinnen und Afrikaner, die solche „Bolsas
de Mandinga“ herstellten und auf den Plätzen von Lissabon verkauften, um vorzuführen, dass die Schutzwirkung ihrer Amulette den Körper unverwundbar
macht, sodass nicht einmal die schärfsten Messer ihnen etwas anhaben könnten.
Obwohl die Amulette sich mit der
Zunahme afrikanischer Bevölkerungsgruppen in Lissabon verbreiteten, so James
Sweet, seien auch
weiße
Portugiesen glühende Anhänger ihrer Magie gewesen, die
vor allem im Umfeld des früheren Stadtteils Mocambo praktiziert wurde und in der
Gegend von São Bento, zwischen Santa Catarina und Bairro Alto.
Das Stadtviertel
Bairro do Mocambo
wurden durch die wissenschaftlichen Arbeiten der Historikerin
Isabel Castro Henriques zu einer afrikanischen
Referenz im Stadtplan von Lissabon. Henriques veröffentlichte ihre Recherchen über die Geschichte des heutigen Madragoa in ihrem 2009 veröffentlichten Buch
A Herança Africana em Portugal
(Das afrikanische Erbe in Portugal). „Mein Buch stellt Mocambo als afrikanischen Raum vor und macht ihn als solchen sichtbar“, betont Isabel Castro Henriques: Die Expertin für afrikanische Geschichte sagt, sie sei durch die Sprache, die sie in den Jahren der Beschäftigung mit dem Schwarzen Kontinent (der „Wiege der Menschheit“) lernte, zur Erforschung der Besonderheit dieses Stadtviertels angeregt worden.
„Es gab sehr wenige Informationen“, berichtet die Wissenschaftlerin, aber trotz dieses Mangels an historischen Referenzen erlaube es die Forschung, eine Zeitachse dieses Viertels zu skizzieren. „Durch zwei königliche Erlasse 1593 und 1605 gegründet, war Mocambo der zweite von damals sechs Lissaboner Stadtbezirken und umfasste die Gemeinden Santos-o-Velho, Santa Catarina, S. Paulo, Nossa Senhora do Loreto und Chagas“. Später zählte ein weiterer, auf den 25. März 1742 datierter Erlass, „zwölf Stadtviertel“ von Lissabon, dessen zwölfter nun „Bairro do Mocambo“ genannt wurde und „die Gemeinden Santos und Nossa Senhora da Ajuda umfasste, mit den Ortschaften Alcântara und Belém“ sowie die „Gerichtsbezirke Barcarena, Algés und Oeiras“.
Die vorliegende Darstellung bezieht sich auf die Arbeit der Historikerin, in der wir auch die Beschreibung eines Stadtviertels finden, das von Arbeiterinnen und Arbeitern besiedelt war, die „für die Sauberkeit und den Erhalt öffentlicher Orte unentbehrlich“ waren, etwa Straßenfeger, Anstreicher, Müllbeseitigerinnen und Wasserverkäuferinnen.
„Die afrikanische Bevölkerung versuchte
hier eine eigenständige Lebens- und Wohnform zu finden, deren Eigenschaften und Architektur
wir nicht genau kennen. Dort wurden im Rahmen der geltenden Rechtsnormen auch
Sklavinnen und Sklaven aufgenommen und es wurde ihnen ein Leben ermöglicht, das auch von
afrikanischen Kulturpraktiken geprägt war: Insbesondere religiöse und
gesellschaftliche Rituale (Geburt, Eheschließung, Tod, Verwandtschaft), die
man hier, fern dem kritischen und wertenden Blick der Portugiesen, bewahren
und befolgen konnte“, heißt es in Isabel Henriques‘
Roteiro Histórico de uma
Lisboa Africana, séculos XV e XXI.
Das 2019 erschienene Buch zeigt zudem, wie die Identität dieser „afrikanischen, versklavten und freien Männer und Frauen, die im Haushalt der portugiesischen Familien oder in der Stadt tätig waren“, dem Viertel eine „einzigartige und neue“ Prägung verliehen.
Der Name „Mocambo“ bedeutet in der Umbundo-Sprache, einer der Sprachen Angolas, ‚kleines Dorf‘ oder ‚Zufluchtsort‘.
Wir gehen den Spuren, die das Buch „Roteiro“ von Isabel Castro Henriques vorgezeichnet hat, nach. Wir laufen durch die Straßen von Madragoa, wo die Schwarze Präsenz, die sich früher vor allem am Anteil freier Personen, sogenannter „forros“ bemaß, mit dem inzwischen geschlossenen Café Cabo Verde im Haus Nr. 32 in der Rua Vicente Borga zu Ende gegangen zu sein scheint. Hier hört man keine Café-Gespräche mehr. Nur die von den Leinen winkende Wäsche und hier und da ein Blick aus dem Fenster verleihen den Straßen noch etwas Leben. Vom afrikanischen „Bairro do Mocambo“, das Isabel Castro Henriques erforschte, oder den von James Sweet gefundenen magischen Ritualen, keine Spur.
Kehren wir daher noch einmal ins 18. Jahrhundert zurück und zu den Prozessen gegen José Francisco Pereira und Francisco José Pedroso. „Franciso José Pereira wurde eines für die damalige Zeit und den Ort recht gewöhnlichen Vergehens beschuldigt: der Herstellung, dem Gebrauch und dem Handel mit aus Gebeten bestehenden ‚Bolsas de Mandinga‘. Sein Begleiter José Francisco Pedroso spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle und handelte nur auf Anweisung des Ersteren“, schreibt der Soziologe, Anthropologe und Historiker Didier Lahon.
Der französische Wissenschaftler betonte in seinem Text „Inquisição, pacto com o demônio e ‚magia‘ africana em Lisboa no século XVIII“ (Inquisition, Teufelspakt und afrikanische ‚Magie‘ in Lissabon im 18. Jahrhundert), dass Francisco Pereira und José Pedroso Analphabeten gewesen seien, also auf einen dritten Beteiligten, einen Sklaven und Mitglied des Christusordens, zurückgegriffen haben müssen, der ihnen die Texte der Gebete kopierte. José Francisco Pedroso schob die beschriebenen Blätter dann heimlich unter den Altarstein der Pfarrkirche S. Paulo. Das Netzwerk der „mandingueiros“ (Zauberkundige) umfasste, wie die Dokumente des Heiligen Offiziums nahelegen, noch weitere fünf versklavte Männer.
Neben der großen Zahl an Beteiligten weist uns der Historiker James Sweet außerdem auf eine im Geschäft mit den „Zaubertaschen“ gängige Praxis hin, wie der Fall Francisco Pereira verrät: Die Amulette wurden vergraben, um ihre Schutzwirkung zu verstärken. „Der aus spiritueller Sicht mächtigste Ort, den wir dem Einflussbereich des Mocambo zuschreiben können, war die Kreuzung zwischen Rua de São Bento und Rua do Poço dos Negros“ [Anm.: Zwei Straßen gegenüber der Avenida D. Carlos I seitlich des Bairro do Mocambo], so der amerikanische Historiker und betont, dass derartige Rituale nur nachts stattfanden.
Der Brauch kann als eine Form Schwarzen Widerstands gegen die Unterdrückung und Verfolgung durch portugiesische Behörden gesehen werden. Doch die Motivation der „mandingueiros“, so James Sweet, sei oft eher pures Überleben im widrigen Alltag gewesen: „Ich kenne mindestens einen Fall, in dem ein versklavter Afrikaner, der sich für einige Tage aus dem Haushalt seines Herrn entfernt hatte und fürchtete, bestraft zu werden, angibt, sich des Zaubertäschchens bedient zu haben, um dieser Strafe zu entgehen.“
Die Rolle des Talismans als Schutz gegen „strenge Bestrafung und Misshandlung“ findet sich auch in der Analyse der brasilianischen Historikerin Daniela Buono Calainho. Sie betont: „Das Akkulturationsprojekt der Inquisition war umfassend, vor allem was die afrikanischen Zauberer im Königreich anging. Die Dämonisierung ihrer Kulte und Glaubensvorstellungen und die konsequente Unterdrückung ihrer Riten und Religiosität war ein Versuch, diesen Teil der Bevölkerung an die Vorstellungen und die Orthodoxie der katholischen Religion zu binden“.
In ihrem Artikel
Africanos penitenciados pela Inquisição portuguesa
(Von
der portugiesischen Inquisition bestrafte Afrikaner, 2004) beschreibt Calainho
zudem, wie im Zuge der „Auslöschung magischer Rituale von Afrikanerinnen und Afrikanern und
ihrer Nachfahren, die als Zauberei eingestuft wurden, die Inquisition sich der
Figur des Teufels bediente, um die Magie ein für alle Mal aus dem Gebiet des
portugiesischen Imperiums zu verbannen“.
Genau dies wird in den Prozessen gegen Francisco Pereira und José Pedroso deutlich. Für die Inquisitoren konnte Pedrosos Rede nur Teufelswerk sein, denn „(…) nach der Untersuchung der Geständnisse des Angeklagten gibt dieser Antworten, die das Verständnis eines einfachen Schwarzen übersteigen, indem er das Gleiche sagt, wie sonst nur Gelehrte in ähnlichen Fällen (…)“.
So wurde auch Francisco Pereiras Erklärung, an der Herstellung, dem Gebrauch und dem Handel mit schützenden Amuletten sei nichts Diabolisches, für unglaubwürdig erklärt. Denn, so die Männer der Inquisition, die angebliche Zauberei könne „ihm gar nicht geheuer sein oder gut habe erscheinen können“, wenn sich ihrer doch „ausschließlich die Schwarzen (…) und auch das nur mit äußerster Vorsicht bedienten“, wie sie betonten.
„Nicht von ungefähr waren 48 Prozent derjenigen, die in Portugal der Zauberei bezichtigt und angeklagt wurden, Sklaven“, so Buono Calainho. Sie betont, dass es in vielen Fällen „keine direkte Opposition oder eines Widerstands gegen die Sklaverei gegeben hätte“, sondern dass die Amulette Teil einer Überlebensstrategie gewesen seien.
Die Geschichtsforschung zeigt außerdem, dass „die ermittelten
Handlungen und magischen Vorstellungen auf eine starke kulturelle Vermischung
hinweisen“, so José Pedro Paiva, Autor des Werks
Bruxaria
e Superstição num País sem Caça às Bruxas, 1600-1774 (Hexerei und Aberglaube in einem Land ohne Hexenjagd) und
Mitverfasser der
História da Inquisição Portuguesa
(Geschichte der
Portugiesischen Inquisition), und fügt hinzu, dass der Gebrauch der „Bolsas de
Mandinga“ ein klarer Hinweis auf das Vordringen „von Elementen aus afrikanischen Kontexten in Lissabon“ sei. Was den Gegenstand der Anklage gegen Francisco Pereira betraf, so bestand dieser aus „einem Stück
weißen Stoffs, einem Stück Meteoritengestein, Achat, Schwefel, einem Pulver,
einer Bleikugel, einer Silbermünze von geringem Wert sowie den Knochen eines
Verstorbenen“, so der Soziologe Didier Lahon.
Erbinnen des Widerstands
„Es ist im Übrigen bezeichnend, dass die Inquisitoren sich anscheinend nicht mit den Inhalten der Gebete befassten, die sie ansonsten nicht hätten ignorieren können“, betont der französische Experte, was José Paiva bestätigte. „Es gibt eine Rezeption europäischer Narrative über Afrikanerinnen und Afrikaner, die mit der Vorstellung eines aus der mittelalterlichen Theologie stammenden Teufelspaktes verbunden ist, den viele Afrikaner bisweilen unter Folter im Prozess der Inquisition gestanden“, so Paiva und weist damit auf den weiteren bemerkenswerten Aspekt eines „Schwarzen Schabbats“ hin, der im Prozess gegen José Francisco Pereira zur Sprache kam. Auch wenn er „nie den Prozess der Inquisition unter der Perspektive des Widerstands afrikanischer Gemeinschaften untersucht habe, so könne dies“, so auch der Soziologe Lahon, doch ein interessanterer Forschungsansatz sein, auch angesichts dessen, was aus anderen Inquisitionsprozessen bekannt sei.
Isabel Castro Henriques schlägt vor, das Konzept des Widerstands generell zu überdenken: „Es geht etwas verloren, wenn wir davon ausgehen, dass Widerstand lediglich eine gewaltsame Reaktion auf ein äußeres Ereignis sei. Eine solche Sicht versperre den Blick auf die afrikanischen Strategien des Überlebens und des Erhalts ihrer Werte und ihrer afrikanischen Identität“. Sie plädiert vielmehr dafür, Widerstand nicht als isolierte Reaktion, sondern als vielschichtigen Prozess zu verstehen. Diese Strategien des Widerstands sollten verstärkt ins Zentrum der Forschung gerückt werden, um zu erfahren, wie Afrikanerinnen und Afrikaner sich in die portugiesische Gesellschaft integrierten. Auch Integration sei, so Castro Henriques, bereits eine Strategie des Widerstands: Um zu überleben und die eigene kulturelle Identität zu bewahren, wurden vielfach Teile der portugiesischen Regeln und Normen äußerlich übernommen, um unter diesem Schutz die afrikanische Identität zu bewahren und zwar ohne Sorge vor Entdeckung durch die portugiesischen Behörden und vor Bestrafung.
Diese von der Notwendigkeit der Integration entwickelte Strategie wiederholt
sich auch in der Gegenwart, in der die Präsenz Schwarzer in den politischen
Entscheidungsgremien Portugals zunimmt. Während der Stadtteil São Bento früher mit seinen
magischen Wegkreuzungen Einfluss auf die Schicksale nahm, bestimmt dieser Ort heute auf parlamentarischer Ebene die Geschicke. Erstmals in der Geschichte der
portugiesischen Demokratie gibt es drei in afrikanischen Ländern
geborene Abgeordnete:
Beatriz
Gomes Dias, vom Linksblock „Bloco de Esquerda“,
Romualda Fernandes von der Sozialistischen Partei und
Joacine Katar Moreira als Unabhängige bringen die Stimme der Veränderung in die portugiesische Politik und beziehen gegen Rassismus und jede
Form von Diskriminierung deutlich Stellung. Sie sind Erbinnen einer fortwährenden Strategie des Widerstands. Auf den Straßen und nun auch an den Wahlurnen.
Übersetzung: Michael Kegler
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BIBLIOGRAFIE
Sweet, James H. (2013): “The Hidden Histories of African Lisbon”, in
Añizaresesguerra, J.; Childs, M.; Sidbury, J. (Org.) (2013).
The Black Urban
Atlantic in the Age of the Slave Trade
, Kap. 11. University of
Pennsylvania Press, Philadelphia.
Lahon, Didier (2004): “Inquisição, pacto com o demônio e “magia” africana em Lisboa no século XVIII”, in: TOPOI, v. 5, n. 8, Jan.-Jun., 9-70.
Castro Henriques, I. (2019): “Roteiro Histórico de uma Lisboa Africana, séculos XV-XXI”, ACM, Lissabon.
Buono Calainho, D. (2004): “Africanos penitenciados pela Inquisição portuguesa”, in: Revista Lusófona de Ciência das Religiões – Ano III, n.o 5/6., 47-63.