Lissabon ist ein koloniales Palimpsest. Die Herausforderung besteht daher vielmehr darin, Orte zu finden, an denen das Koloniale kein Denkmal ist, da es in seiner Selbstverständlichkeit gar nicht als solches gelesen wird. Daher und aus Gründen meiner eigenen Lebensumstände wähle ich einen solchen nicht gleich entsprechend erkennbaren Ort: Das portugiesische Nationalparlament, die „Assembleia da República“. Deutlich zutage trat das Koloniale dort nach der Wahl zweier Schwarzer Abgeordneter mit klar antirassistischer Agenda.
Mein Weg in dieses Gebäude führte über eine dieser zwei Abgeordneten: Joacine Katar Moreira, der ich unter anderem im Ausschuss für Umwelt, Energie und Raumordnung zuarbeitete, insbesondere für einen Entschließungsantrag zur strategischen Evaluation von Umweltfolgen des Bergbaus, in dem sich in Form einer Gesetzesinitiative zum Klimaschutz Forderungen künftig von Prospektion und Erschließung von Lithiumvorkommen Betroffener wiederfinden. Die Initiativen waren Teil einer anti-extraktivistischen Agenda, die auch versuchte, den kolonialen Aspekt der Betrachtung von Natur als das „Andere“ und Vermarktbare einzubeziehen — der sich auch im Zustandekommen von Gesetzen widerspiegelt.
Bild 1. Neuklassizistische Fassade des Parlamentsgebäudes. Foto: Rui Morais de Sousa, © Arquivo Fotográfico da Assembleia da República
Kolonialität der Macht
Obwohl das Parlament ein Organ staatlicher Souveränität ist — wie auch Präsident, Regierung und Gerichte — und als oberstes Ziel die Vertretung aller portugiesischer Staatsbürger*innen (Artikel 147 der portugiesischen Verfassung) hat, in ihrem Namen handelt und ihnen Rechenschaft schuldig ist, fühlen nicht alle Portugiesinnen und Portugiesen sich dort repräsentiert. Wäre es so, wäre das Koloniale vielleicht weniger offensichtlich. Kolonialität ist die hegemoniale Machtstruktur der Moderne — ihr „verborgenes Antlitz“ (Mignolo 2011) — die das Ende des Kolonialismus in Gestalt eines diskursiven und optischen Unterbewusstseins überlebt hat und sich palimpsestartig als „Subtext“ in Schichten äußert, die sich verfestigen. Im Parlament durfte ich dieser Agenda in ihren unterschiedlichen Ausprägungen begegnen.
Die „Kolonialität der Macht“ (Qijano, 1992) zeigt sich bereits in der Zusammensetzung des Parlaments aus einer mehrheitlich männlichen, weißen Elite und erstreckt sich auf eine Reihe von Protokollarien und Verfahren, etwa „stillschweigenden Übereinkünften“ darüber, wer Einreichungsfristen für Initiativen und Anträge überziehen darf und wer nicht, in den Besprechungen der Fraktionsvorstände mit dem Parlamentspräsidium über die Tagesordnung der Parlamentssitzungen oder darüber, wer zum Nationalfeiertag am 25. April reden darf und wer nicht. Sie zeigt sich auch in der neuen Geschäftsordnung (von Juli 2020), die festlegt, wer die Regierung befragen darf und wer nicht, in der die Redezeit fraktionsloser Abgeordneter beschränkt wird und das Instrument der Note (Gratulation, Protest, Verurteilung, Gruß, Solidarisierung, Sorge) in die Ausschüsse verwiesen wird, anstatt sie wie bis vor Kurzem noch im Plenarsaal zuzulassen, was ihre zeitliche und daher politische Unmittelbarkeit beschneidet.
Da die wichtigste Funktion des Parlaments die Legislative ist, also die Gesetzgebung, manifestiert sich die „Kolonialität der Macht“ auch inhaltlich, etwa, wenn in dem auf Initiative mehrerer Parteien entstandenen Gesetz zur Regelung der Ansprüche früherer Kriegsteilnehmer (Estatuto do Antigo Combatente) der Kolonialkrieg als „Militäroperation 1961-1975“ bezeichnet wird, was die wahre Natur des Konflikts verschleiert. Sie zeigt sich auch, wenn bei Petitionen aus der Bevölkerung die Mindestanzahl der Unterschriften, damit das Parlament sich mit ihnen befassen muss, von 4000 auf 7000 erhöht wird und viele Petitionen dadurch unsichtbar gemacht werden. Vieles davon bleibt der Öffentlichkeit und selbst einer kritischen Elite weitgehend verborgen, die überraschenderweise kaum Kenntnis von parlamentarischen Verfahren und Abläufen hat. Erst der Eintritt Schwarzer Körper in diese Institution legt diese Verfahren und Abläufe bloß, die oft kaum transparent und in der Regel unnötig kompliziert sind.
Bild 2. Pfau (2020). Innenhof. Mit freundlicher Genehmigung: REM
Kolonialität des Seins
Ebenso zeigt sich im Parlament die „Kolonialität des Seins“ (Maldonado-Torres, 2007), also die Erfahrung rassifizierter Subjekte, vor allem nicht gesehen und nicht als Menschen wahrgenommen zu werden. Dies geschieht etwa, wenn eine Abgeordnete nicht vor verbaler rassistischer oder misogyner Gewalt eines Kollegen geschützt wird, obwohl die protokollarischen und verfassungsmäßigen Verfahren dazu zur Verfügung stehen, oder wenn in anderem Zusammenhang weiterhin unterschiedliche Formen der respektvollen Anrede verwendet werden — Herr Abgeordneter / Frau Abgeordnete, Dr. / Dra. Ich werde auch nie die Episode vergessen, als ein Parlamentsangestellter auf meine erste Unsicherheit bezüglich eines Verfahrens fragte: „Wen kennen Sie hier?“ und damit die Wichtigkeit von „symbolischem Kapital“ (Bourdieu, 1994), also die Reproduktion einer gewissen Abstammungslinie im politischen Betrieb, deutlich machte. Ich habe fantastische Angestellte kennengelernt, vor allem diesen einen, und weitere im Ausschuss für Umwelt, Energie und Raumordnung (an die ich am liebsten zurückdenke), doch es ist eben auch so, dass das Parlament nicht vorbereitet ist auf Personen, denen die Regeln und die Choreografie des Orts nicht im Vorfeld vertraut sind.
Auf dem Weg durch die langen Flure, die Säle, Salons, Räume, über größere und kleinere Treppen hat man das Gefühl, an dem Ort – der drei Jahrhunderte lang das Benediktinerkloster São Bento war, dann von den Kammern der liberalen Monarchie (1834-1910) übernommen wurde und anschließend republikanischer Kongress (1910-1933) und Nationalversammlung (1933-1974) war – nie allein zu sein. Man wird von den unzähligen Gespenstern dieser palimpsestartigen Nutzung verfolgt: den Statuen und Statuetten, Figuren aus dem Gemälden und Porträts, den Pfauen, den Katzen Tobias und Rudy, und sogar von Zorbas, der Möwe. Auf den ersten Blick erscheint das Parlamentsgebäude mit seinen Hintergründen aus Gold und Purpur makellos; bei genauer, sorgfältiger Betrachtung wirkt alles, was das Auge erfasst, bemüht: die Samtpolster der Sessel abgewetzt, die Vorhänge verschlissen, die Teppichböden und Bodenbeläge zerschlissen, das Holz rissig, einer Statue fehlt eine Hand oder ein Arm, ein Spiegel hat mit der Zeit Flecken bekommen, die Büsche haben ihre Form verloren, der Marmor ist angenagt, das große Ölgemälde mit einer dunklen Patina überzogen, im Licht, das durch rissige Fensterrahmen dringt, wird der Staub der Jahrhunderte sichtbar.
Etwas Stimmiges liegt in diesem unterschwelligen, auf den ersten Blick nicht sichtbaren Verfall, denn trotz zahlreicher Umgestaltungen bis zu dem von dem Architekten Ventura Terra (1966-1919) verantworteten heutigen spätneuklassizistischen Erscheinungsbild [Bild 1] steht der portugiesische Parlamentarismus auf den Grundmauern eines alten katholischen Klosters mit all dem dazugehörigen historischen und symbolischen Gehalt. Vielleicht ist es unmöglich, diesem gespenstischen Muster zu entkommen.
Bild 3. Allegorien: Gesetz (Francisco Santos), Eloquenz (Júlio Vaz Júnior) und Verfassung (Simões de Almeida, sobrinho). Foto: Miguel Saavedra, © Arquivo Fotográfico da Assembleia da República
Kolonialität des Blicks
Die auffälligste Erscheinungsform des Kolonialen ist wahrscheinlich die „Kolonialität des Blicks“ (Barriendos, 2011), ein optisches Unterbewusstsein, das jeder visuellen Gewohnheit zugrunde liegt und auf Polarisierung und Unterwerfung des betrachteten Subjekts unter das betrachtende besteht. Sie basiert auf einer Reihe von Überlagerungen, Verästelungen und ebenso hierarchischer wie zeitlicher Rekombinationen, die sich in ihrer Diskontinuität miteinander verbinden. In den Fluren, Sälen und Salons, den Bildern und Statuen, den Büsten und kleinen Gemälden sind nur „große weiße Männer“, denen die Geschichte das Recht zugesteht, Stein und Gemäuer zu werden — Präsidenten der Abgeordnetenkammer der Monarchie, des republikanischen Abgeordnetenhauses, sowie illustre Parlamentarier (Hintze Ribeiro, Bernardino Machado, Afonso Costa, Braancamp Freire, Salgado Zenha und Francisco Sá Carneiro) oder Helden und historische Gestalten, die Columbano Bordalo Pinheiro (1875-1929) für die Wandelhalle „Passos Perdidos“ gemalt hat (D. Dinis, D. João II, Pater António Vieira, Manuel Fernandes Tomás, Passos Manuel, Almeida Garrett, Alexandre Herculano und José Estevão).
Frauen sind hier nur Dekoration: Kariatyden, mythologische oder allegorische Figuren – Gesetz, Justiz, Weisheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Kraft, Rhetorik, Eloquenz, Verfassung, Heimat [Bild 3]. Einzige Ausnahmen sind Königin D. Maria II (1819-1853), ein omnipräsentes Gespenst mit Anspruch auf einen nach ihr benannten Raum und zumindest drei Darstellungen (an die ich mich erinnere) [Bild 4] und Assunção Esteves (geb. 1956), die sich einsam aber mit einem Lächeln in die trübsinnige Reihe der Parlamentspräsidenten einfügt, ikonoklastisch in sitzender Pose auf ihrem Schreibtisch. Und es gibt noch zwei Büsten von Parlamentarierinnen, der Sozialdemokratin Natália Correia (1923-1993) sowie der Kommunistin Alda Nogueira (1923-1998), verbannt in den Claustro das Oliveiras [Bilder 6 und 7], einen der früheren Kreuzgänge. Die visuelle Repräsentanz entspricht also der über die Jahre tatsächlich existierenden Repräsentanz. Noch heute sind gerade einmal etwa 40% aller Abgeordneten Frauen, und das auch nur wegen einer 2006 eingeführten Quote — ein Mechanismus, den es auch für andere Akteur*innen geben sollte.
Bild 4. Königin D.Maria II von António Manuel da Fonseca (1843). Vor dem Senatssaal. Bild 5. Präsident Assunção Esteves (2011-2015) von Isabel Guerra Peñamaria (2016). Galerie der Parlamentspräsidenten. Mit freundlicher Genehmigung: IBB
Bild 6. Die sozialdemokratische Abgeordnete Natália Correia von João Cutileiro (2000). Bild 7. Die kommunistische Abgeordnete Alda Nogueira von António Trindade (2000). Fotos von Jorge Caria, © Arquivo Fotográfico da Assembleia da República
Rassifizierte Subjekte kommen im Parlament so gut wie nicht vor, außer im Prunksaal, dem Salão Nobre – und dort, wie fast immer in ganz Lissabon fragwürdig in dienender Haltung dargestellt. Ich sah die Bilder zum ersten Mal 2017 auf Hinweis von Mamadou Ba, der damals Berater der Linkspartei Bloco de Esquerda war, und mit dem Kunsthistoriker und Wissenschaftler für Visual Culture Nicolas Mirozeff, dem es bei ihrem Anblick die Sprache verschlug; ich wurde rot vor Scham. Diese sieben im Auftrag des Estado Novo 1944 entstandenen idealisierenden Wandgemälde, vom Maler und damaligen Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst Adriano Sousa Lopes (1979-1944) geschaffen und nach dessen Tod von Domingos Rebelo und Joaquim Rebocho fertiggestellt, verherrlichen die „Entdeckungen“ [Bild 8]. Als Gemälde eher niedriger Kategorie verewigen sie eine lachhafte und bis in unsere Zeit wohlbekannte Choreografie: Hier kleine Figuren mit gen Himmel erhobenen Händen, dort, wie sie um ein Wunder flehen; es werden Messen gelesen, ein Kreuz wird aufgestellt, Schwerter werden gezogen, man „entdeckt“, stellt Säulen auf, hisst Standarten. Doch nirgendwo wird getötet, vergewaltigt, geplündert … Eine ikonografische Unwahrheit!
Die Titel der Wandbilder arbeiten die gesamte Palette der Verherrlichung ab: „Heinrich der Seefahrer überreicht dem Kapitän der Armada den Plan der Entdeckungen“, „Die Einnahme von Ceuta“, „Diogo Cão an der Zaire-Mündung“, „Bartolomeu Dias umsegelt das Kap der Stürme; später der Guten Hoffnung“, „Pedro Álvares Cabral landet auf Vera Cruz – Brasilien“, „Die Einnahme von Malaca durch Afonso de Albuquerque“ und „Vasco da Gama wird von den Gesandten des Samorin empfangen“. Nun sind Plan, Einnahme, Landung, Empfang Euphemismen, die eine Geschichte der Gewalt verschleiern und die Subjektivität jener „anderen“ – ganzer Völker – unerwähnt lassen, die dort ebenfalls dargestellt sind. In den Fensternischen zeigen vier weitere Wandbilder in leuchtenden Farben „unbewohnte“ Landschaften des afrikanischen Kontinents, Brasiliens und Indiens mit ihrer zoologischen und botanischen Ikonografie und erinnern daran, dass der Kolonialismus den Extraktivismus als Beziehungsmodell zum Natur-Gegenüber und Tier-Gegenüber einleitet und somit der große Verantwortliche ist für die Umweltkrise, die heute auf uns hereinbricht.
Es handelt sich also um eine zugleich koloniale wie faschistische Bildlichkeit, die wenige Jahre zuvor für die Ausstellung der Portugiesischen Welt (1940) in Belém geschaffen wurde, wo ein bereits existierendes Kolonialarchiv — historische Persönlichkeiten, Nationalhelden, Mythen, Orte, Daten und Folklore — erstmals nutzbar gemacht wurde und in Serie ging (Accioli, 1998). Einer „Visualisierung der Geschichte“ und einem „imperialen Komplex“ (Mirozeff, 2011) wurde Ausdruck verliehen, dessen Ziel die Verwaltung von Herrschaft war. Und nur weil dieser Komplex noch weit über das verkündete Ende des Imperiums 1974 hinausreicht, sind diese Bilder bis heute in der Guten Stube der Demokratie zu sehen, wo man Staatschefs ehemaliger Kolonien empfängt, ohne sie bis heute in Frage zu stellen - wohl wissend, dass diese Bilder bekanntlich buchstäblich Technologien der Herstellung einer kolonialen Vorstellungswelt waren, auf die sich eine ganze bis heute nachwirkende epistemologische Tradition gründet. Sie illustrieren das Koloniale nicht, sondern sind es.
Tatsächlich basierte die Kolonialherrschaft, wie Edward Said (1994) verdeutlicht, nicht nur auf Gewalt und Ausbeutung, sondern auf „ideologischen Formationen“, einem ästhetisch „verfestigten Bild“. Ein Bild, das später vom spätkolonialen Staat vertieft wurde, das, wie Benedict Anderson (1983) zeigt, eine spezifische „Vorstellung“ entwickelte, die auch den postkolonialen Zustand durchdringt. Daher sind die Wandbilder der „Sala Nobre“ nicht nur Zeugnis des Kolonialismus, sondern selbst Kolonialismus und dienen noch heute dazu, das rassifizierte Subjekt wieder in die koloniale Gleichung zurückzuversetzen. Nicht von ungefähr lässt sich Joacine Katar Moreira nach ihrer Wahl im Salão Nobre fotografieren, indem sie Vasco da Gama, dem „Helden der Helden“ den Rücken kehrt. Sie sprengt mit diesem Foto die koloniale „Visualität“ dieser Wandbilder und stellt den Schwarzen Körper neu als historisches Subjekt dar, anders als ihn die Bilder- und Dokumentationsflut des Kolonialismus schuf. Angesichts dieser Gemälde drängt sich die Frage auf: Was steckt dahinter, dass man sie heute noch zeigt? Wer zeigt sie? Wem nützen sie (weiterhin) eigentlich? Wer profitiert (weiter) davon, dass sie gezeigt werden?
Das Parlament dekolonisieren: Gesetzgebung, Neuorientierung, Wiedergutmachung
Dekolonisierung bedeutet, wie Eve Tuck und Waine Yang (2012) dargelegt haben, nicht Inklusion – also und Frauen, und rassifizierte Subjekte, und Homosexuelle, und Tiere, und Natur –, sondern die Entwicklung eines anderen Vorstellungs-, Tätigkeits- und Wissensraums. Daher, und auch weil die vorrangige Aufgabe des Parlaments die Gesetzgebung ist, muss Dekolonisierung durch Gesetze geschehen und neue Initiativen voranbringen, die den Dekolonisierungsprozess beschleunigen, durch längst nicht mehr neue Forderungen wie die Revision von Schulbüchern, aber auch ganz aktuelle, wie die Forderung nach Kommissionen zur Evaluation dessen, was von dem, was der Staat in Verwahrung hat, aus der Plünderung kolonisierter Bevölkerungen und ungleichen Machtverhältnissen stammt, selbst wenn es „erworben“ wurde. Gleiches gilt für die Form der Gesetze, denn auch Recht muss dekolonisiert werden, insbesondere durch das Zurückdrängen von juristischem Jargon, der gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger von der Kenntnis der Gesetze und somit ihrer Rechte abhält. Schließlich muss durch eine größere Öffnung des Parlaments zur Bevölkerung eine verbreitetere Kenntnis der Verfahren erreicht werden; zum Beispiel ist wenig bekannt, dass Bürgerinnen und Bürger Gesetzesinitiativen einbringen können (und dafür 20.000 Unterschriften benötigen) oder Anhörungen durch Ausschüsse oder Fraktionen verlangen können. Demokratie beschränkt sich nicht darauf, alle vier Jahre die Stimme abzugeben. Bürgerinnen und Bürger haben das Recht — und ich behaupte sogar, die Pflicht — sich an ihre Vertreterinnen und Vertreter zu wenden.
Was die Wandgemälde im Prunksaal angeht, genügt es nicht, darüber zu informieren, dass sie in einem spezifischen – faschistischen, kolonialen — Kontext entstanden. Auch weil ungefähr um dieselbe Zeit auch in offiziellem Auftrag Almada Negreiros (1993-1970) nicht weit entfernt vom Gebäude des Parlaments, am Schiffsanleger Rocha Conde d'Óbidos, einem der damals wichtigsten Ankunftshäfen des Landes also, eine Reihe von Wandbildern schuf, die genau das Gegenteil derer im Salão Nobre sind, eine modernistische (und moderne) Idee einer kollektiven Abbildung jener (und kommender) Jahre. Mit dem Fokus auf Auswanderung und als Porträt eines gar nicht heroischen Landes entwirft Almada ein Bild, das für das Salazar-Regime inakzeptabel war, weshalb es versuchte es auszulöschen, da es sich darin nicht wiedererkannte (Acciaiuoli, 1991; Beleza Barreiros, 2009).
Deswegen bleibt eine historisch-formale Einordnung dieser Wandbilder stets ungenügend und ist nur eine weitere Fortschreibung der Geschichte. Die Bilder im Prunksaal des Parlaments sind verankert in einer kolonialen Epistemologie, die inzwischen im wichtigsten Ehren- und Empfangssaal des Hauses der Demokratie eine postkoloniale Identität produziert, die einem „Komplex der Visualität“ nachhängt, koloniale Gewalt und deren Epistemizid verewigt. Auf diese Weise wird der „Geist des Imperiums“ als nostalgischer Widerhall eines kolonialen Musters, als prothetischer Ersatz des abwesenden Imperiums, bis in die Gegenwart aufrechterhalten. So existiert dieses politisch unterschwellig weiter, sollte aber nicht mehr als Bild und Erzählung des Landes dienen.
Bild 8. Prunksaal (Salão Nobre) des Parlamentsgebäudes mit kolonialfaschistischen Wandgemälden (1944), 2021. Foto: Miguel Saavedra, © Arquivo Fotográfico da Assembleia da República
Bild 9. Virtueller Eingriff in die Gestaltung des Salão Nobre. Mit freundlicher Genehmigung: IBB
Neben anderen Maßnahmen, die öffentlich debattiert werden sollten, ließe sich graduell in die Gestaltung des Salão Nobre eingreifen, beginnend mit der Verhüllung der Wandgemälde durch Vorhänge — wenigstens wenn Staatsgäste aus ehemaligen Kolonien empfangen werden (wenn nicht aus anderen Gründen, dann wenigstens aus Höflichkeit und aus protokollarischen Gründen). In einem zweiten Schritt könnten Veranstaltungen, Performances und Ausstellungen auf die koloniale Genealogie der Gemälde hinweisen. Drittens könnten Filmschaffende aus Ländern mit portugiesischer Staatssprache einen Beitrag zur Debatte durch einen gemeinschaftlichen Dokumentarfilm leisten, der als Dauervorführung im Salão Nobre mit den Gemälden in Dialog tritt. Als vierter Schritt könnte dann die Entfernung der Bilder stehen und ihre Verlegung an eine weniger exponierte Stelle, wo über ihre koloniale Genealogie informiert werden könnte (es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Parlamentsgebäudes: Die Statue König D. Carlos‘, gedacht für den Sitzungssaal seiner Abgeordnetenkammer, sowie die Krone, die über deren Köpfen schwebte, befinden sich beide heute beinahe verschämt im Atrium des Palasts). Schließlich ließe sich unter Künstlerinnen und Künstlern, die für Diversität der portugiesischen Bevölkerung stehen, die Neugestaltung der Wände ausschreiben.
Es darf nicht vergessen werden, dass das Parlament auch Museum ist, das Arbeitskraft und eine Arbeitsgruppe mit Abgeordneten aller politischen Lager zur Bearbeitung kultureller Fragen bereithält. Deren Aufgabe ist es unter anderem, sich „zu kulturellen Fragen des parlamentarischen Lebens“ zu äußern und „den kulturellen Bestand zu bewerten“, Kunstwerke zu erwerben und Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen zu ermöglichen. Diese Ressourcen sollten angesprochen und/oder abgerufen werden. Das Parlament darf nicht weiter das Koloniale in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, seine Macht und seine Daseins- und Sichtweise, reproduzieren, sondern sollte sich an den in der nach der Nelkenrevolution entstandenen Verfassung festgeschriebenen Werten orientieren.
Im Übrigen sollte das Parlament im Zentrum einer konsequenten politischen Auseinandersetzung über Maßnahmen der Erinnerung und Dekolonisierung sowie vor allem der Wiedergutmachung stehen, welche ein Tabuthema in Portugal ist, selbst in den auf den ersten Blick fortschrittlicheren Medien. Aber solche Wiedergutmachung wurde, so hat es Ana Lúcia Araújo (2017) gezeigt, von versklavten Subjekten, die sich des ihnen angetanen Unrechts bewusst waren, bereits zu deren Lebzeiten verlangt, mit einer langen Reihe entsprechender Anträge vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Insofern ist auch heute daran nichts unzeitgemäß. Es geht nicht nur darum, Schulbücher umzuformulieren, Statuen und Wandbilder zu entfernen, Quoten einzuführen, Objekte zurückzugeben, Straßen und Plätze umzubenennen, Gegenarchive in Umlauf zu bringen und historische Schuld zu begleichen. Wiedergutmachung bedeutet, wie Arielle Azoulay (2019) betont, „epistemische Neuorientierung“ sowie ein Verlernen kolonialer Herangehensweisen, die Wissen und demzufolge auch Macht reproduzieren.
Bild 10: Tobias (2021), der neben anderen Tieren im Parlamentsgebäude von der Haussanitäterin Lina gefüttert wird. Bildrechte: IBB
Epilog: Macht ist in ihrem Wesen kolonial
Zudem muss sich die Aufmerksamkeit auch auf die Zwischenräume im kolonialen Gebilde richten, zu dem auch zwingend das Parlamentsgebäude gehört. Den Kolonialismus (und sein Erbe in der Gegenwart) kennen, heißt insbesondere wissen, was ihm Widerstand leistete (und noch leistet). Eine der wichtigsten Lektionen, die ich aus meiner Zeit dort mitnehme, ist, dass das Wesen der Macht immer kolonial ist, weshalb eine große Anstrengung nötig ist, ihre zahlreichen Ausprägungen zu erkennen und ihre Ausübung abzulehnen — durch uns selbst und durch andere uns gegenüber.
September 2021 (nach einem Interview im September 2020)
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BIBLIOGRAFIe
Acciaiuoli, Margarida. 1991. Os Anos 40 em Portugal, o País, o Regime e as Artes. Restauração e Celebração, Tese de Doutoramento em História da Arte, Universidade Nova de Lisboa.
-----. 1998. Exposições do Estado Novo 1934-1940 (Lisboa: Horizonte, 1998)
Araújo, Ana Lúcia. 2017. Reparations for Slavery and the Slave Trade: A Transnational and Com-parative History. New York: Bloomsbury.
Azoulay, Arielle Aisha. 2019. Potential History. Unlearning Imperialism. London. Verso.
Barriendos, Joaquin. 2011. “La Colonialidade del Ver.,” Nómadas, no. 35 (Octobre 2011): 13-29.
Beleza Barreiros, Inês. 2009. “Sob o Olhar de Deuses sem Vergonha”: Cultura Visual e Paisagens Contemporâneas. Lisboa: IHA/Colibri.
Bourdieu, Pierre. 1994. Raisons Pratiques. Paris Seuil
Maldonado-Torres, Nelson. 2007. “Sobre la colonialidad del ser: contribuciones al desarrollo de un concepto.” In El giro decolonial: reflexiones para una diversidad epistémica más allá del capitalis-mo global, ed. Santiago Castro-Gomez and Ramón Grosfoguel, 127-167. Bogotá: Siglo de Hombre Editores
Mignolo, Walter. 2011. The Darker Side of Western Modernity. Durham: Duke University Press.
Quijano, Aníbal. 1992 (2007). “Colonality and Modernity/Rationality.” Cultural Studies 21, no. 2, 168-178.
Tuck, Eve e Waine Yang. 2012. “Decolonization is not a metaphor.” Decolonization: Indigeneity, Education & Society, Vol. 1, No. 1, 1‐40.